Hans-Dietrich Genscher habe ich als Zeitgenosse ähnlich engagiert bekämpft, wie Helmut Schmidt. Beider Wert habe ich erst im Lichte des Wirkens ihrer Nachfolger*innen und der Gegenwart erkannt. Das ist ja immer so: was eine*r wert ist, merkt mensch erst, wenn sie*er fehlt. In diesem konkreten Fall ist das politisch sehr bitter. Vergossene Milch? Einerseits ja. Andererseits fand ich heute das:

Svenja Schulze/IPG-Journal: Bleibt alles anders – In den USA zieht Donald Trump erneut ins Weiße Haus ein: Was bedeutet dies für die internationale Zusammenarbeit?”

Lesen Sie das trotz der Langeweile verströmenden Überschrift in Ruhe durch, und lassen Sie es auf sich wirken. Hätte die Bundesaussenministerin es auch so (ähnlich) geschrieben? Nein, hätte sie nicht.

Sozialdemokrat*inn*en werden lebenslang darauf trainiert. Kritik zu verschlüsseln. Adressat*inn*en sollen sie nicht überhören. Aber auch nicht als geeigneten Vorwand für einen kraftvollen Gegenschlag erkennen. Gegenüber der Öffentlichkeit muss der Eindruck der “Zerstrittenheit” vermieden werden. Nach aussen sind alle lebenslang solidarisch. In der jüngeren Vergangenheit ist das immer öfter misslungen. Darum steht die SPD heute da, wo sie ist. Svenja Schulze ist es innerhalb der SPD aber fast immer gelungen, darum war und ist sie da, wo sie ist.

Bemerkenswerte Passagen, von der ich wünschte, die deutsche Aussenpolitik würde sie zur Kenntnis nehmen:

“Und auch die Welt, auf die Donald Trump im Jahr 2025 trifft, hat sich weiterentwickelt. Sie ist multipolarer geworden. Neue regionale Mächte werden einflussreicher und erheben einen legitimen Anspruch auf globale Mitgestaltung. Länder wie Brasilien, Indien, Nigeria. Gleichzeitig sinkt der Einfluss des Westens weiter.” (fett von mir)

“Deutschland und Europa werden noch viel mehr als einende Kräfte, als selbstbewusste Vermittlerinnen im internationalen System auftreten und sich damit gegen nationalistische Tendenzen auflehnen müssen.” Müssen sie, ja. Aber tun sies auch?

Ein “Hallo-wach!” zu diesem wahren Satz: “Mehr als drei Viertel aller Menschen auf der Flucht suchen Schutz in angrenzenden Ländern oder als Binnenvertriebene im eigenen Land.” mit der treffenden Schlussfolgerung: “Mindestens die Hälfte der EU-Mittel für Flucht und Migration sollten in den Schutz und die Versorgung von Flüchtlingen in Aufnahmeländern sowie in sichere reguläre Migrationswege fließen. Das ist allemal effizienter als Zäune und Grenzkontrollen. (fett wiederum von mir)

Es folgt ein Absatz zur Steuergerechtigkeit, der anmutet, als habe sie Heiner Jüttner gelesen.

Und gegen Ende: “Denn die meisten Länder des Globalen Südens sind ebenso interessiert daran, grenzüberschreitende Probleme zu lösen. Und sie sind – genau wie Deutschland – stabile Unterstützer eines fairen Multilateralismus.” Das ist mir neu, das “genau wie Deutschland”.

Beim IPG-Journal war bei der Onlinestellung von Schulzes Text offenbar niemand zuhause. Unfreiwillig komisch heisst es “Allein schon deshalb, weil es mit dem Project 2025 einen ausgearbeiteten Plan für die künftige amerikanische Politik gibt, für jeden und jede lesbar, online veröffentlicht.” – aber ein Link fehlt. Zu gefährlich für die dummen Leser*innen? Hier geht es zum Original. Und hier zur demokratischen Kritik daran.

Disclaimer: Svenja Schulze zähle ich zu meinen persönlichen Freundinnen. Seit sie ein Regierungsamt hat, haben wir leider nur noch selten (Email-)Kontakt. Hier schrieb sie 2020 bei uns.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net