Internationales Recht gilt im Gazastreifen wie in der Ukraine. Wer das ignoriert, sollte sich nicht als Verteidiger einer wertebasierten Ordnung aufspielen
Wenn US-Präsident Donald Trump den Gazastreifen als Immobilie behandelt, ist dies der extremste Ausdruck dessen, was bereits vorher geschehen ist: die Menschen dort und ihr Lebensrecht wie eine Sache zu behandeln. Eine Sache für Deals; bei den Deutschen sind es erinnerungspolitische Deals.
Gaza ist zur Chiffre geworden, anders als einst Vietnam, doch in manchem ähnlich. Gleich vier international bekannte Intellektuelle – es sind sämtlich Männer – umkreisen in ihren neuen Büchern, was den Gazastreifen zu diesem globalen Zeichen gemacht hat: Dass seine Zerstörung von westlichen Regierungen toleriert, geduldet, unterstützt wurde und was daraus folgt: ethisch, politisch, philosophisch. Keiner der Autoren macht es sich leicht; natürlich leugnet keiner die Hamas-Verbrechen, und die Ansätze von Pankaj Mishra, Peter Beinhart, Didier Fassin und Enzo Traverso sind so unterschiedlich wie die jeweiligen Prägungen der Verfasser.
Der indische Essayist Pankaj Mishra unternimmt, was im dekolonialen Lager oft vernachlässigt wird: Er schreitet das historische Tal der jüdischen Erfahrung ab, verknüpft sie mit der Geschichte anderer Unterdrückter und auf Befreiung Hoffender, blendet Martin Buber und Rabindranath Tagore zusammen. Mishra fühlt sich jüdischen Denkern verpflichtet und er sah die Shoah als universellen moralischen Referenzpunkt. Ob Gaza diese Referenz dauerhaft zerstört hat, treibt Mishra ebenso um wie den jüdisch-italienischen Historiker Enzo Traverso.
Mishras Resümee ist düster: Israels Politik sei Vorbote einer neuen Welt, die ethnische Säuberung Palästinas kaum aufzuhalten. Die weltweite Solidarität habe „die große Einsamkeit der Palästinenser“ gelindert, dies berge immerhin Hoffnung.
Peter Beinhart, US-amerikanischer Kolumnist, Journalismusprofessor und Ex-Zionist, sieht wie Mishra in der Zerstörung Gazas „ein Symbol unserer Zeit“. Doch ist sein Buch „Being Jewish after the Destruction of Gaza“ ein leidenschaftliches Plädoyer für eine neue jüdische Erzählung, in der Selbstschutz nicht mehr bedeute, andere zu unterwerfen, die Ohren vor ihren Schmerzensschreien zu verschließen und sich ein Unschuldszeugnis auszustellen. „Wir müssen eine neue Geschichte erzählen, um auf den Horror zu antworten, den ein jüdischer Staat begangen hat, mit der Unterstützung vieler Juden auf der Welt.“
Beinhart bekommt in den USA Morddrohungen rechtsradikaler Juden; dennoch hält er an einer Utopie fest, zu der ihn nicht zuletzt seine Jugend in Südafrika inspirierte. So wie dort die Apartheid überwunden wurde, könne auch Israel-Palästina ein humanistisches Fanal für die Menschheit setzen: „Wenn wir uns selbst von Suprematie befreien, können wir als Partner der Palästinenser helfen, die Welt zu befreien.“ Gaza, so Beinharts Hoffnung, möge zum Wendepunkt jüdischer Geschichte werden.
Der Franzose Didier Fassin, Anthropologe und Arzt, war in seiner Forschung wie in der Leitung von Médecins Sans Frontières oft mit der Ungleichwertigkeit von Leben befasst – eine Kategorie, die nun im Zentrum seiner Schrift „Moral Abdication“ steht, das moralische Abdanken der westlichen Regierungen. Die Zerstörung Gazas geduldet oder unterstützt zu haben, werde als ethisches Versagen eine unauslöschliche Spur im Gewissen der beteiligten Gesellschaften hinterlassen. „Was das Gedächtnis zweifellos am längsten heimsuchen wird, ist die Ungleichheit von Leben, die auf der Bühne von Gaza zur Schau gestellt wurde.“ Pankaj Mishra spricht im selben Zusammenhang von einer „inneren Wunde“, von der Last der Trauer über eine Schuld aus Verstrickung.
Gibt es in Deutschland ein Bewusstsein dieser Selbstbeschädigung? Nicht in der politischen Klasse, aber wohl doch bei manch anderen, die sich ein Gespür dafür bewahrt haben, dass das Tötenlassen palästinensischer Frauen und Kinder nicht das Töten jüdischer Frauen und Kinder durch unsere Vorfahren sühnt. Die deutsche Politik will nun die sogenannte wertebasierte Ordnung gegen Trump verteidigen – als hätten deutsche Waffen für den erbarmungslosen Gazakrieg nicht genau diese Werte torpediert.
GroKo gegen das Völkerrecht
Wenn Nochkanzler Scholz, ein Jurist, sagt, er brauche sich mit dem Genozidvorwurf gar nicht zu befassen, und Demnächstkanzler Friedrich Merz, ebenfalls Jurist, sich brüstet, den internationalen Haftbefehl gegen Netanjahu missachten zu wollen, ist das eine große Koalition zur Schwächung des Völkerrechts – und Trumpismus im Westentaschenformat.
Das Tötenlassen palästinensischer Kinder sühnt nicht das Töten jüdischer Kinder durch unsere Vorfahren
Ob internationales Recht verteidigt wird oder die viel zitierte neue Ruchlosigkeit triumphiert, entscheidet sich an den Palästinensern ebenso wie an den Ukrainern. Eine politische Freundschaft mit Israels Regierungs- und Staatspolitik ist für ein demokratisches Deutschland heute genauso wenig möglich wie mit Trump. Die Staatsraison ist so ausgehöhlt wie der Transatlantismus alter Art. Belege? In den Vereinten Nationen hat Israel beim Thema Ukraine die Gesellschaft von Nordkorea und Belarus gesucht. Trumps Vorschlag, den Gazastreifen ethnischen zu säubern, löste Jubel aus. Und künftig verwehrt Israel per Gesetz all jenen die Einreise, die eine völkerrechtliche Strafverfolgung von Vergehen seiner Sicherheitsorgane öffentlich gutheißen. Parlamentarier, Medien und Menschenrechtsorganisationen, die internationalem Recht verpflichtet sind, gelten in Israel nun als feindliche Organe.
Wer diesem verwegenen Autoritarismus schmeichelt, sollte auch von Trump schweigen. In der Welt nach Gaza ist Trumpismus nicht „das ruchlose Andere“, sondern längst mitten unter uns, in Europa und in diesem verwirrten, driftenden Deutschland.
Der Beitrag von Frau Wiedemann ist einer der intelligentesten Versuche, den ich je gelesen habe, eine antisemitische Botschaft zu verschleiern. Die Quintessenz des Textes lautet ganz einfach: Israel ist an allem schuld. Das lasen wir doch mal auf Plakaten einer rechtsextremistischen Partei in Deutschland. “Gaza als Chiffre” – das ist nichts anderes als das. Nur geschickter.
Man sollte sehr vorsichtig sein, wen man zitiert. Ich schätze Pankaj Mishras Bücher sehr, aber man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass er zuletzt in einem im New York Review of Books abgedruckten Statement gefragt hat, ob die Vergewaltigungen vom 7. Oktober wirklich stattgefunden hätten. Natürlich nur als Wissenschaftler.
Es ist immer dasselbe: Täter-Opfer-Umkehr bis hin zur Leugnung des Terrors (wie zurzeit auch von Trump und manchen Akteuren der Wagenknecht-Friedensbewegung gegenüber der Ukraine gepflegt). Ohne das Pogrom vom 7. Oktober hätte Israel in Gaza nicht militärisch eingegriffen, abgesehen von den üblichen Aktionen, wenn die Hamas mal wieder Raketen auf Sderot und andere Ortschaften der Umgebung abgeschossen hat (stellen Sie sich bitte vor, aus Eupen oder Welkenraedt würden regelmäßig Raketen auf Aachen und Düren abgeschossen, das ist die Realität im Süden Israels schon seit Jahrzehnten).
Die Frage, ob die israelische Armee zu heftig reagiert hat, ist sicherlich berechtigt. Dazu gibt es zahlreiche Demonstrationen in Israel, mit dem Tenor: “Bring them home now” und der Forderung nach einer Waffenruhe. Es gibt in diesen Demonstrationen die berechtigten Fragen, ob Netanjahu mehr am Schicksal der Geiseln oder an seinem eigenen Schicksal nach einer Neuwahl interessiert ist und wie sehr er sich von seinen rechtsextremen Koalitionspartnern erpressen lässt. Diese spielen in der Tat eine sehr gefährliche Rolle, gerade zurzeit einmal wieder, wo extremistische Siedler im Westjordanland agieren. Aber auch das ist kontroverses Thema in Israel und in Israel wird niemand eingesperrt oder erschossen, weil er:sie dies offen ausspricht. Nur am Rande: Unter den von der Hamas ermordeten, verschleppten und gefolterten Menschen waren viele, die sich aktiv für einen Frieden in der Region engagierten. Aber das interessiert die Hamas ebenso wenig wie offenbar auch so manche Kommentator:innen im bequemen deutschen Sessel. Alle gleich, sind ja Israelis, sind ja Juden.
Am 7. Oktober hat die Regierung Netanjahu versagt. Inzwischen haben Shin Bet und Armee ihr Versagen am 7. Oktober zugegeben, nur einer noch nicht: Netanjahu selbst. Im deutschen Strafrecht gibt es die Figur des “Notwehrexzesses” (§ 33 StGB). Vielleicht würde dieser Begriff hier passen. Der Begriff des “Genozids” ist auf jeden Fall hier nicht angebracht (bei allem Respekt vor dem Internationalen Strafgerichtshof). Auch dieser Begriff wird zurzeit immer wieder in Kommentaren bemüht, um Israel zu delegitimieren. Konkretisiert wird er nicht.
Und dann der Iran. Seine Proxys Hisbollah, Hamas, Islamischer Dschihad wurden erheblich geschwächt. Das ist nicht nur in unserem Interesse, sondern auch im Interesse der umliegenden arabischen Staaten, die jetzt einen eigenen Plan zum Wiederaufbau von Gaza entwickeln und – das dürfen wir mit Sicherheit annehmen – keinerlei Sympathie für die Hamas pflegen. Trumps Plan ist natürlich widerlich, der Plan eines Immobilienhändlers. Die arabischen Staaten, so unappetitlich man manche ihrer Staatschefs finden mag, dürften es durchaus hinbekommen, dass Trump im Nahen Osten nur eine untergeordnete Rolle spielen wird. Vielleicht schafft er es, die Abraham-Abkommen auszuweiten (vor dem 7. Oktober war ein Abkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien kurz vor dem Abschluss, die Hamas hatte unter anderem das Ziel, es zu torpedieren). Das wäre zu begrüßen , aber sein Vorschlag, Gaza zu einem Urlaubsressort zu machen, ist dabei natürlich alles andere als hilfreich (es sei denn, wir vermuten dahinter eine “List der Vernunft”, weil sich die arabischen Staaten erst in Reaktion darauf auf den Wiederaufbau mit ihren eigenen Mitteln verständigt hätten).
Die deutsche Politik hat über Jahrzehnte ein Appeasement gegenüber dem Iran und gegenüber Russland gepflegt, das jeweils mit dazu beigetragen hat, dass Iran in der gesamten Levante und Russland gegenüber der Ukraine, gegenüber Georgien und anderen so vorgehen konnte, wie sie das getan haben. Was “Staatsraison” ist, wurde nie konkretisiert. Ich empfehle, die Bücher von Nathan Sznaider, Eva Illouz oder Meron Mendel zu lesen, die zu diesem Thema viel Differenziertes aufgeschrieben haben.
Ich weiß, man sollte mit Antisemitismus-Vorwürfen sehr vorsichtig sein. Das werfe ich Frau Wiedemann auch nicht vor, aber ihre Argumentation öffnet all denen Tür und Tor, die freudig ihre alten antisemitischen Anwandlungen endlich offen aussprechen wollen und das angesichts solcher Argumentation dann auch tun. (Wer mehr Hintergrundwissen dazu sucht, darf gerne in meinem Internetmagazin stöbern, zum Beispiel in den Rubriken “Antisemitismus” und “Levantinische Aussichten”, mit Essays, Buchbesprechungen und Interviews mit Menschen, die die Region gut kennen.)
Danke!
Zur Klarstellung: Der Dank richtet sich an Charlotte Wiedemann.
Reaktionen auf andere Leserkommentare sind immer automatisch nach rechts eingerückt. Wer das nicht weiss, kann es in der Tat missverstehen.
Dank an Frau Wiedemann für diesen Beitrag. Ich stimme dem vollkommen zu.
Die Kritik von Herrn Dr. Reichel und der Satz “Die Frage, ob die israelische Armee zu heftig reagiert hat, ist sicherlich berechtigt.”, lassen mich sprachlos zurück.