Neue Guerillakämpfe gefährden den inneren Frieden

Nachdem Kolumbiens Präsident Gustavo Petro Ende Januar sein Kabinett demontiert hat, ist unklar, wie es mit seinem – eigentlich – progressiven Projekt weitergeht. Ist der „totale Frieden“, den er angekündigt hatte, ein totaler Reinfall? Was Petro erreicht hat und was er der Bevölkerung schuldig geblieben ist: eine Zwischenbilanz.

Am Ende des Jahres 2024 konnte die linke Regierung in Kolumbien, angeführt von Präsident Gustavo Petro, auf zweieinhalb Jahre relativ geräuschloser Arbeit und einige politische Erfolge zurückblicken. Eine seiner engsten Mitarbeiterinnen, Laura Sarabia, hat eine historisch zu nennende Rentenreform durchs Parlament gebracht, die die soziale Ungleichheit entscheidend verringern wird. Ihr gutes Verhältnis zu Teilen der kolumbianischen Unternehmerschaft hat diese veranlasst, durch den Bau von Wasserleitungen die wüstenähnliche Halbinsel La Guajira an der Karibikküste mit ausreichend Trinkwasser zu versorgen. Das sind wichtige Initiativen, obwohl der Rentenreform die Geschlechterperspektive fehlt (Frauen werden wohl weiterhin systematisch schlechter gestellt sein bei der Rente) und das Bewässerungsprojekt nicht überall den gewünschten Effekt gebracht hat. Innenminister Juan Fernando Cristo, ein auch in konservativen Kreisen geschätzter Liberaler, stärkte den politischen Einfluss der Regionen, Umweltministerin Susana Muhamad hat auf der internationalen Umweltkonferenz im Oktober 2024 in Cali den Blick der Weltöffentlichkeit auf den Erhalt der Biodiversität im Pazifikraum und die Gefahr einer weiteren Abholzung des Regenwaldes am Amazonas gerichtet. Schließlich hat Kulturminister Juan David Correa, im Gegensatz zu den Vorgängerregierungen, deutliche Fortschritte auf dem Gebiet der Inklusion und Teilhabe der indigenen und schwarzen Bevölkerung erzielt und somit eines der großen Wahlversprechen Petros eingelöst.

Es gab natürlich auch Rückschläge. Auf Druck der rechten oppositionellen Medien musste der Präsident seinen Wirtschaftsminister Ricardo Bonilla wegen Korruptionsvorwürfen entlassen, die bis heute nicht aufgeklärt sind. Das Parlament lehnte eine von der Regierung eingebrachte Finanz- und Steuerreform ab. Und Petros wichtigstes Wahlversprechen, auf dem Verhandlungsweg eine Auflösung der letzten noch aktiven Guerillagruppe ELN (Ejército de Liberación Nacional) zu erreichen, konnte bisher nicht eingelöst werden. Während es Petros Vorvorgänger Juan Manuel Santos 2016 gelungen war, mit der größten und ältesten Guerilla FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) ein stabiles und dauerhaftes Friedensabkommen zu schließen und die große Mehrzahl ihrer Kämpfer*innen in das politische und zivile Leben zu integrieren, verweigert die ELN eine Niederlegung der Waffen bis heute. Petro, der in den 80er-Jahren selbst in der kurzlebigen bewaffneten Untergrundorganisation „Movimiento19“ aktiv tätig war, konnte den immer wieder angekündigten und tatkräftig angestrebten „totalen Frieden“ („paz total“) bisher nicht verwirklichen.

Am 17. Januar 2025 eskalierte eine militärische Auseinandersetzung zwischen der ELN und der Frente 33. Das ist die Organisation der so genannten „Dissident*innen“ der FARC, die sich 2016 weigerten, den Friedensvertrag anzuerkennen, und ihren bewaffneten Widerstand gegenüber dem Staat fortgeführt haben. Die Kämpfe brachen in der Region Catatumbo aus, in der nordöstlichen Provinz Norte de Santander, zwischen der östlichen Andenkordillere und der Grenze zu Venezuela. Es ist kein Zufall, dass es genau dort zu einem neuen Gewaltausbruch zwischen den beiden verfeindeten Untergrundgruppen gekommen ist. Der erste Grund ist, dass im Catatumbo der Coca-Anbau gedeiht und der dichte Urwald ein gutes Versteck für die Laboratorien zur Herstellung von Kokain darstellt. Der zweite Grund ist die nahe „grüne“ Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela. Sie erlaubt es, das Kokain schnell außer Landes zu bringen und es von den venezolanischen Häfen aus in die USA und nach Europa zu verschiffen. Daneben bietet die unkontrollierbare Grenze eine gute Möglichkeit, sich eventuellen Attacken der kolumbianischen Armee schnell zu entziehen. Der Angriff der ELN traf aber nicht nur die Mitglieder der Frente 33, sondern auch die Zivilbevölkerung, vor allem Friedensaktivist*innen und Sozialarbeiter*innen. In wenigen Tagen gab es Dutzende von Toten und Verletzten und Zigtausende von Flüchtlingen, die die Region in Richtung Venezuela verließen. Der Präsident hatte seit Beginn seiner Regierungszeit immer wieder Schritte der Versöhnung mit der Guerillaführung unternommen. Doch jetzt scheint er die Geduld verloren zu haben. Als Präsident und Oberbefehlshaber der kolumbianischen Armee verhängte er den Ausnahmezustand über die Region Catatumbo. Die Tageszeitung El País zitierte ihn mit den Worten: „Die ELN will Krieg, dann soll sie Krieg bekommen.“

Rückschläge und Rücktritte

Diese markigen Worte können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht nur militärisch schwierig sein wird, den blutigen Konflikt schnell einzudämmen und den Catatumbo wieder zu befrieden. Auch das Misstrauen zwischen Kolumbien und seinem Nachbarn Venezuela engt den Handlungsspielraum für eine größere Militäraktion in dieser sensiblen Region ein. Die venezolanische Regierung hat sich früher schon mit der ELN dahingehend arrangiert, dass deren Führung ihre Befehle von sicherem venezolanischem Boden aus geben kann. Die illegalen Grenzübertritte der Kämpfenden werden stillschweigend geduldet. Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro hegt seit den Tagen von Iván Duque, dem konservativen Vorgänger Petros und engem Verbündeten der Vereinigten Staaten, die fast paranoide Furcht, dass dieser ihn, den ungeliebten Chavisten, aus seinem Amt vertreiben könnte. Diese Angst flammte jetzt wieder auf, da die US-amerikanische Regierung die Wiederwahl Maduros im letzten Jahr nicht anerkennt. Unter der neuen Trump-Administration ist die Gefahr einer Invasion von kolumbianischem Boden aus nicht kleiner geworden. Die ELN wäre für diesen Fall ein nützlicher Verbündeter, eine Art Schutzschild, um einem solchen Ernstfall etwas entgegensetzen zu können. Der Konflikt im Catatumbo kommt daher für Maduro ziemlich ungelegen.

Die tiefe Regierungskrise, die in der ersten Februarwoche Bogotá erschütterte, macht ein entschlossenes militärisches Vorgehen allerdings für Petro schwierig, wenn nicht unmöglich. Alles begann mit einer im Fernsehen zur besten Sendezeit live übertragenen Kabinettssitzung. In dieser Runde griff der Präsident einzelne Minister*innen scharf an. Er warf ihnen vor, dass sie die Regierungsarbeit sabotierten, indem sie seine Wahlversprechen absichtlich verschleppten und dass sie überhaupt in seinem „progressiven Projekt“ fehl am Platz seien. Wörtlich sagte er: „Ich schäme mich. Der Präsident ist ein Revolutionär. Die Regierung nicht“ (El País vom 6.2.2025). Besonders traf es die Vizepräsidentin Francia Márquez, mit der Petro seit ihrer Berufung ins Amt keine vertrauensvolle Beziehung gepflegt hatte und die als Feministin, Umweltaktivistin und aufgrund ihrer afrokolumbianischen Herkunft in der kolumbianischen Linken äußerst populär ist. Sie griff vor dem versammelten Fernsehpublikum Petro scharf an. Der Präsident habe mit Armando Benedetti einen Kabinettschef ernannt, dem Korruption in großem Stil vorgeworfen wird und dessen Ehefrau schwere Vorwürfe gegen ihn wegen sexueller Gewalt erhoben hat. Der Präsident antwortete ihr: „Der Feminismus ist nicht dazu da, den Mann zu zerstören […]. Ich habe Feminismus gesehen, der Männer zerstört. Einen perfekten Mann gibt es nicht.“ (El País vom 6.2.2025) Zu dieser Aussage passt, dass Márquez‘ zweijährige mühevolle Arbeit, ein Gleichstellungsministerium aufzubauen, eher behindert als gefördert wurde. Die Folge dieses öffentlichen Spektakels war der Rücktritt der wichtigsten Minister*innen (darunter der Innen-, Außen- und Verteidigungsminister). Sie wurden durch unerfahrene Politiker*innen aus der zweiten und dritten Reihe ersetzt. Ausgerechnet der national und international bekannte und geschätzte Verteidigungsminister Iván Velásquez hinterlässt in einer Zeit, wo der Friede und die innere Sicherheit Kolumbiens erneut gefährdet sind, eine tiefe Lücke. Gustavo Petro ließ sein Kabinett zunächst ratlos zurück und brach zu einem viertägigen Staatsbesuch nach Saudi-Arabien auf.

Werner Altmann hat Ende der 1980er- bis Anfang der 90er-Jahre als Lehrer an der Deutschen Schule und als Dozent an der Universidad Nacional in Bogotá gearbeitet. Er ist Autor von mehreren Büchern und Aufsätzen zur kolumbianischen Geschichte und Literatur. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 483 März 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Werner Altmann / Informationsstelle Lateinamerika:

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