Die heutige soziale Frage und ihre Unlösbarkeit
Das ist die Wohnungsfrage. Und ich muss die taz-Redaktion ausnahmsweise mal kollektiv loben, dass sie diese – spät genug – zu diesen Weihnachten richtig erkannt hat. Sie war auch bei mir Thema beim Familienmenü. Meine Eltern mieteten sich vor meiner Geburt in den 50ern in einer “ECA-Siedlung” an der Stadtgrenze Gelsenkirchen-Beckhausen/Gladbeck-Rosenhügel ein: 2-Zimmer, Wohnküche, Bad, Balkon (mit freiem Blick auf die Sonnenuntergänge im Westen und einen Bauernhof (!) für 35 Mark (!)/Monat. Die Kindermassen konnten sorglos auf der Strasse spielen. Allerdings wurden die ersten Autos vors Haus platziert und von Nachbar zu Nachbar bewundert und beneidet. Rechts von uns stand ein Goggo, wir hatten einen Lloyd und links von uns stand ein neuer Ford.
Aus diesem grossartigen Buch erfuhr ich ein Jahrtausend später, dass unsere Vermieterfamilie für den Ankauf des kleinen Reihenhauses 10.000 Mark (!) auf den Tisch legen musste. Die Vermietung des ersten Stocks wird der Abzahlung eines entsprechenden Kredits gedient haben. 1962 zogen wir um nach Gladbeck in eine weit grössere Wohnung, mit freiem Ostblick vom Balkon auf den gleichen Bauernhof. Auf der Strasse spielen wäre hier lebensgefährlich gewesen: der Autoverkehr beherrschte bereits die Räume – und tut es heute immer noch. Vier Häuser weiter die A2, noch ohne Lärmschutzwände. Die kamen erst, als sie auf sechs Spuren verbreitert wurde – aber da waren wir schon weg, 1969 in eine alte in Etagenwohnungen umgebaute Zechendirektorenvilla in Essen. Zwei Geschwister waren dazugekommen.
Heute bewohnt mein verwitweter Vater die Riesenwohnung allein, und extrem preisgünstig. Die heutige Vonovia hatte den parkartigen Garten mit Doppelhaushälften nachverdichtet, und dann alles einzelprivatisiert (= Cashflow). Zum Glück funktioniert die Nachbarschaft so gut, dass sogar auf Zäune verzichtet wird. Die Villa kaufte ein alter, aber um einiges jüngerer Arbeitskollege meines Vaters (alle Knappschaftsrentner), der ihm und meiner Schwester lebenslanges Wohnrecht und null Mieterhöhung garantiert. Also eine Art Paradies 200m nördlich der Emscher.
Deutsche Wohnungspolitik – geschichtsvergessen und dumm
Ich habe also nichts zu klagen, bis heute. Möglicherweise geht es der übergrossen Mehrheit heutiger Politiker*nnen so ähnlich. Anders ist die Ignoranz der gegenwärtigen deutschen Wohnungs- und Sozialpolitik nicht erklärbar. Im Kern ist sie geschichtsvergessen, blind und dumm.
Das machen die folgenden Texte deutlich. Jede deutsche Vorgeschichte ist eine des deutschen Faschismus.
Uwe Rada/taz: “NS-Pläne zur Umgestaltung Berlins: Die ungebaute Stadt – Krieg und Kapitulation verhinderten den Bau von Albert Speers Reichshauptstadt Germania, doch die Wunden im Stadtbild blieben. Eine Spurensuche”.
Hier kommt u.a. die lebenslange Forschungsarbeit meiner alten Jungdemokraten-Freundin Susanne Willems zu verdienten Ehren. Zu unserer aktiven Zeit rettete die alte GVP- Freundschaft ihrer Familie zu Johannes Rau unserer aus der FDP kollektiv ausgetretenen Organisation das finanzielle Überleben. Diesem alten Netzwerk verdankte unsere Republik auch den besten und anständigsten Bundespräsidenten, den sie bis heute gesehen hat: den Essener Gustav Heinemann.
Was zur heutigen Wohnungspolitik zu sagen ist, schreibt
Georg Diez/taz: “Macht der Immobilienkonzerne: Bei der Wohnungsfrage geht es um Demokratie – Nur eine Demokratie, die liefert, darf sich so nennen. Gibt es zu wenige Wohnungen, erfüllt sie eine ihrer Grundvoraussetzungen nicht.”
Die durch den herrschenden Immobilienkapitalismus erzwungene Merkwürdigkeit der Riesenwohnungen der vereinsamten Alten – die vielen Millionen deutschen Boomer*innen werden derzeit alle alt! – kommentiert sogar ein alter weiser Mann in der FAZ: Martin Kämpchen kehrte nach 50 Jahren Indien an den Mittelrhein zurück: “Wie fremd mir das Zusammenleben in Deutschland geworden ist – In Deutschland hat man das Zusammenrücken verlernt: Was ich bei meiner Rückkehr nach fünfzig Jahren in Indien hierzulande erlebt habe. Und was ich besonders vermisse.” Nur leider hat ihn sein Verlag digital eingemauert.
Was tun?
Erster Schritt: Beruhigt euch! Wie daraus Politik wird, erläuterte heute morgen – mal wieder – die überragende DLF-Sendereihe “Essay & Diskurs” (Redaktion: Thorsten Jantschek – völlig veralteter Wikipedia-Eintrag) mit diesem Beitrag (auch nachlesbar, bravissimio!):
Solmaz Khorsand/DLF: “Der lange Atem: Eine Beschwörung demokratischer Langsamkeit – Einen langen Atem zur haben, galt lange Zeit als Garant für Erfolg. Im Alltag, beim Sport, in der Politik. Heute leben wir in Zeiten der schnellen Erfolge und einer Politik der Kettensägen. Gibt es Auswege aus dieser Kurzatmigkeit?”
Wieder eine Wienerin. Das kann kein Zufall sein.
Und jetzt zum Mittagessen.

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