Laut Wahlprogramm will die FDP die Steuerzahlenden pro Jahr um 60 Mrd. € entlasten. Dass die Spitzenverdiener jährlich 5.200 € und Geringverdiener nur 600 € erhalten sollen, kann bei dieser Partei nicht überraschen. Nun könnte man zur Tagesordnung übergehen in der Gewissheit, dass viele Wahlversprechen später nicht umgesetzt werden. Bemerkens- und nachdenkenswert ist jedoch die Aussage der FDP zur Gegenfinanzierung. Sie will die Milliarden durch steigende Steuereinnahmen aufgrund positiver Wachstumswirkungen besorgen.
Gewiss ein anspruchsvolles Ziel, wenn man sich die Ausgangslage anschaut. Im Jahre 2020 betrugen die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt 740 Mrd. €, darunter auch Steuern, die unabhängig von Konjunktur und Wachstum sind (Erbschafts-, Grund-, Kraftfahrzeug-, Tabak-, Kaffee-, Alkohol- oder Lotteriesteuer). Will man diese 740 Mrd. € um 60 Mrd. € steigern, so sind dies 8,1 %. Vereinfacht könnte man schlussfolgern, dass das Wachstum dann mindestens 8,1 % betragen muss (siehe unten). Das will die FDP in einem Jahr erreichen! Da muss man glatt die SPD loben: Deren Steuerkonzept ist aufkommensneutral: Die Erleichterungen für Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen werden durch Anhebungen bei den Spitzenverdienern ausgeglichen.
Die Vorgaben des Magischen Vierecks, wonach stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum neben hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Stabilität des Preisniveaus zu den gleichrangigen Aufgaben der Bundesregierung gehört, stammen aus dem Jahre 1967. Schon 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine weltweit beachtete Studie über „Die Grenzen des Wachstums“. Quantitatives Wachstum ist historisch überholt, so die Auffassung vieler Wissenschaftler/innen und Politiker/innen. Will tatsächlich jemand bei uns noch mehr Rasenmäher, Schuhe und Pizzen herstellen als bisher? Und entsprechend mehr Rohstoffe und Energie verbrauchen? Würde man das von der FDP erhoffte Wachstum von 8 %/a jedes Jahr realisieren, so bedeutete das eine Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) innerhalb von neun Jahren. Mit allen absehbaren und nicht absehbaren Folgen.
Beim quantitativen Wachstum wird das Sozialprodukt erhöht, ohne dass hierbei auf die soziale oder die natürliche Umwelt Rücksicht genommen wird. Es besagt nichts über die Qualität der erzeugten Waren und Dienstleistungen, sondern zielt auf die rein mengenmäßige Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Man zählt einfach alle Zahlungsvorgänge zusammen, um zu ermitteln, wie viel in einer Volkswirtschaft produziert wird und wie viele Dienstleistungen erbracht werden. Das ist sicherlich eine interessante Statistik für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft im Land – aber nicht mehr.
Zum Beispiel fließen Verkehrsunfälle und dadurch bedingte Reparaturkosten in das BIP ein und steigern es. Zudem ist die Entwicklung des BIP manipulierbar. So erhöht die Zahlung von Kindergeld das BIP, steuerliche Kinderfreibeträge tun dies nicht. Oder die Parteienfinanzierung: Wahlkampfkostenerstattung erhöht das BIP, Spenden nicht. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen wird im BIP ohnehin nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie Haus- und Familienarbeit, Nachbarschaftshilfe oder ehrenamtliches Engagement.
Diese Bedenken stellen keine Absage an technischen Fortschritt, Produktivitätssteigerung und Rationalisierung dar. Sie sind eine Warnung vor ungezügeltem Wachstumsdenken und einseitiger Wirtschaftspolitik. Investitionen sind und bleiben notwendig zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit, zum Ersatz überholter Anlagen, für Strukturveränderungen und zum Aufbau neuer Produktionszweige, zur Sicherung der Beschäftigung, zur Erhöhung der Löhne und Gehälter und zur Erzielung von Steuereinnahmen.
Zur Messung der Lebensqualität ist das BIP jedoch ungeeignet. Deshalb hilft eine Diskussion über die Höhe der Wachstumsrate nicht weiter, ebenso wenig die Forderung nach Nullwachstum. Statt dessen ist zu klären, was soll wachsen, was soll gleich bleiben, was soll sinken? Solarenergie oder Kohlestrom, Autobahnen oder Eisenbahnen, Biolandbau oder Massentierhaltung, Exportüberschuss oder Chancen für die schwächeren Länder? Kapazitätserweiternde Investitionen müssen ausgerichtet werden am vorhandenen Bedarf an Gütern und Dienstleistungen.
Das anzustrebende Wachstum muss also qualitativer Art sein. Neben der Steigerung der Produktionsmengen zielt es auf eine Verbesserung der Lebensqualität, die Humanisierung der Arbeitsbedingungen, die Schonung der Umwelt, die Einsparung und rationelle Verwendung von Energie und Rohstoffen, die Verbesserung der sozialen Infrastruktur (Wohnen, Bildung, Öffentlicher Personenverkehr, Gesundheits- und Sozialwesen) oder eine gerechtere Einkommensverteilung. Allerdings ist die Messung des nachhaltigen Wachstums und der Lebensqualität in einer Gesellschaft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
Zur Frage nach der Relation zwischen Wachstum und Steuermehreinnahmen (Steuerintensität des Wirtschaftswachstums) gibt es unterschiedliche Behauptungen und Schätzungen, oftmals politisch gefärbt und nicht frei von Zweckerwägungen. Üblich ist die Meinung, dass ein Prozent Wachstum einem einprozentigen Zuwachs der Steuereinnahmen entspricht. Andere beziffern den Faktor mit 0,6 oder 0,8 %. Die Wechselwirkung der verschiedenen volkswirtschaftlichen Indikatoren ist offenbar zu komplex, um monokausale Wirkungen ermitteln zu können. Es gibt zwar eine Abhängigkeit, aber keinen Automatismus.
Es leuchtet rasch ein, dass es bei qualitativem Wachstum noch schwieriger sein dürfte, einen konkreten Zusammenhang zwischen Wachstum und Steuereinnahmen zu belegen. Was bewirken Verhaltensänderungen, z.B. beim Umstieg auf Elektroautos oder grüne Energien, bei einem Wechsel der Ernährungsweise oder bei neuen Präferenzen für Urlaubsziele. Was steuert die Entwicklung kostengünstiger und energiesparender Produktionsverfahren bei, die Umstellung auf nachhaltige Produkte und Verkehrsmittel, die Reinhaltung von Boden, Luft und Wasser oder die Verbesserung der Qualität im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen. Die Steuerintensität eines solchen qualitativen Wachstums wird sicherlich nur gering sein und noch schwieriger zu berechnen als bei quantitativem Wachstum.
Letzte Kommentare