Der Nautilus-Autor Gilbert Achcar, den ich für seine gründliche Arbeit über die Geschichte und das Narrativ des Holocaust in der arabischen Welt sehr respektiere, rief in der Online-Konferenz „Solidarität mit dem Widerstand gegen Putins Krieg“ emphatisch zu Waffenlieferungen an die Ukraine auf. Das nahm ich zum Anlass, in einem Brief an eine Freundin meinen Einspruch gegen seine Position, die von so vielen geteilt wird, zu formulieren:

Liebe X,
ich habe mir die Diskussion gestern angehört.
Ich möchte dazu, weil wir beide ja „eine Beziehung“ zu Gilbert (Achcar, als Autor, als politische Stimme) haben, kurz etwas sagen, ohne zu wissen, wie Du zu Gilberts Position stehst:
Seinen Aufruf zur Waffenlieferung lehne ich komplett ab.
Seinen Vergleich mit dem spanischen Bürgerkrieg lehne ich auch ab.
Ich sehe hier nicht, dass man eine revolutionäre Bewegung unterstützt, die Situation 1937 in Spanien und die heute in der Ukraine sind doch nicht vergleichbar! Gerade nicht aus einer freiheitlichen, anarchistischen, selbstbestimmten Perspektive.
Außerdem bin ich wirklich gegen jeden Krieg zwischen Staaten. Ich bin auch gegen jede Aufrüstung und Bewaffnung oder Waffenlieferung an Staaten. Ich finde den Aufrüstungsdiskurs in Deutschland, in der und für die EU, bedrückend und ekelhaft.
Ich bin auch für die Stärkung des Widerstands gegen Putins Krieg, gegen den Krieg, den die Ukraine führt, wie gegen alle Kriege der Welt, Putins Krieg in Syrien, Nato-Krieg in sonstwo.
Ich bin für die Stärkung des Widerstands gegen Putins Regime im Inneren und Äußeren, ebenso wie ich für die Stärkung des Widerstands gegen die ukrainischen Oligarchen und die Oligarchen des Westens bin.
Ich finde es sehr unpassend, hier, wie Gilbert es tut, von Logik zu sprechen: Logik, dass man Waffen liefern muss, wenn man den Widerstand stärken will.
Das scheint mir unhistorisch: es gibt eine Genese des Konflikts, und die wird damit ausgespart, abgebrochen, verschwiegen.
Auch wenn es, wie bei jedem Konflikt, müßig ist zu sagen: es hätte schon vorher verhandelt werden müssen und es hätten alle Karten auf den Tisch gehört, auch das, was die NATO treibt, kann man doch nicht sagen: jetzt spielt die Genese keine Rolle mehr und es sprechen nur noch die Waffen?!
Für mich gibt es nur ein NEIN zum militärischen Denken, zum Freund-Feind-Denken etc.
Die Frage ist doch: wie finden die Kräfte, denen es um Autonomie, um eine solidarische Gesellschaft etc. geht, den Raum, ihre Erfahrungen zu sammeln? Sich zu stärken? In der Ukraine, in Russland und überall auf der Welt.
Für mich sind Gilberts pathetische Aufrufe zur Waffenlieferung Ausdruck eines machtpolitischen Denkens. Das lehne ich ab. Aus tiefstem Herzen und meinen gesammelten Erfahrungen.
Der Krieg wird verlängert, die Opfer werden zahlreicher: wozu?
Gibt es keine anderen wirksamen Mittel, den Krieg zu beenden?
Die Zapatisten haben übrigens, soweit ich weiß, nie Waffen gefordert. Sie haben internationale Solidarität gefordert und bekommen. Ihr Kampf um Autonomie hat sich auf einer anderen Ebene und in einer anderen Sprache abgespielt, obwohl das mexikanische Militär einmarschiert ist und die „faschistischen“ weißen Garden Massaker angerichtet haben.
Die Bewaffnung verlängert den Krieg und vermindert die Freiräume.
Ich, als Große Schwester all meiner Genossen und Genossinnen, habe immer wieder deeskaliert. Und nach all den Grabenkämpfen im Kleinen, bei denen ich anwesend und Zeugin war, ist eins klar herausgekommen: man muss in die Überraschung, man muss aus der Kampfmaschine raus! Es wäre sowohl von Putins Seite als auch von seiten des Westens die einzig richtige Lösung gewesen, wenn man schon Politik treibt, mit Deeskalation zu überraschen.
Aber weder Putin noch „der Westen“ haben diese Größe, natürlich. Es sind vernagelte Machtpolitiker und Interessenvertreter bestimmter Oligarchien.
Die Bewaffnung jedes nationalen Konstrukts ist meiner Meinung nach gänzlich der falsche Weg, wenn es um eine „andere Welt“ geht.

Sei herzlich gegrüßt
und ich bin gespannt, von Dir zu hören!
Hanna

 

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Über Hanna Mittelstädt (Gastautorin):

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