Mexiko: Cubanische Migrant*innen hauchen der verrufenen Ciudad Juárez neues Leben ein
Odalys hat sich an das Leben in Ciudad Juárez gewöhnt, an die staubigen Straßen und die von Fabrikarbeit müden Gesichter. Und an ihren neuen ständigen Begleiter, die Angst. Die Grenzmetropole gilt als eine der gefährlichsten Städte der Welt. „Mein Gott, was fürchte ich mich hier“, ruft die 31-Jährige und schlägt sich die Hände auf die dunklen Wangen voller Sommersprossen. Furchtlos, das seien sie keinesfalls, die unbedarften Cubaner*innen, die die heruntergekommenen Straßenzüge besiedeln. „Wir sind erst nach Guadalupe im Juáreztal gezogen“, erzählt sie mit heller singender Stimme. „So billig wurden dort ganze Häuser angeboten.“ Was sie nicht wussten: Dass hier vor Jahren Flugblätter von Kartellangehörigen verteilt wurden, um die Bewohner*innen zu vertreiben. Dass das Tal von Massengräbern durchzogen ist. Dass es auch heute niemand betritt, ohne beobachtet zu werden. Odalys ist nur eine von vielen cubanischen Zugewanderten, die zum Teil verlassene Straßenzüge von Ciudad Juárez mit neuem Leben füllen. Kathrin Zeiske hat einige dieser neuen Stadtbewohner*innen getroffen und erzählt ihre Geschichten.
Pablo Montalvo steht im Hinterhof und lauscht. In den zentralen Wohnvierteln der 1,3-Millionen-Einwohner-Metropole Ciudad Juárez ist es mitunter totenstill. Doch heute kläfft seine Pitbull-Hündin die weißgetünchte Wand zum Nachbargrundstück an. An dieser hängt ein ausgebleichter Kuhschädel mit langen Hörnern, ein rahmenloses Ölgemälde einer schwarzen Frau mit Kind und das Drahtgestell eines Spielflugzeugs. Montalvo lebt in dem ebenerdigen Lehmbau, seit seine Mutter mit ihm als Neugeborenen aus dem Krankenhaus kam. Damals waren die Häuser im Viertel begehrt. Doch die anderen Familien sind weggezogen, viele Gebäude stehen leer, dem Verfall preisgegeben im unwirtlichen Klima der Wüstenstadt. Seit vor einer Dekade der „Krieg gegen die Drogen“ Ciudad Juárez heimsuchte und Tod und Vertreibung brachte, wird die als Rauschgift-Umschlagplatz verschriene Innenstadt von vielen Menschen gemieden. Doch heute hören Pablo und die Pitbull-Hündin ganz unverkennbar Stimmen aus dem Nachbarhaus.
„Hallo“, klingt es ein paar Stunden später an seiner Tür. Ein gut gebauter Mann mit angenehmen Zügen steht davor und nennt sich Cebe. Er mustert Pablo, mit langem grauen Bart, Jeanshemd und Nickelbrille, neugierig. „Somó de Cuba“, wir sind aus Cuba, sagt er. Und er erzählt dem Flohmarkthändler und Plattensammler, was der schon vermutete. Dass sie gerade nebenan eingezogen sind, zwei Familien und eine alleinerziehende Mutter mit Kind. Sie teilen sich das Haus, das ihnen billig vermietet wurde. Doch gebe es keinen Strom, alles sei sehr improvisiert. Ob Pablo Montalvo ihre Handys aufladen könne, fragt er. „Das ist die einzige Verbindung zu unseren Familien, wissen Sie“, erklärt Cebe und hält ihm hoffnungsvoll die Mobiltelefone entgegen. Montalvo nickt freundlich. „Irgendwann ist fast jeder hier angekommen“, sagt er. Wanderten die Menschen früher aus den mexikanischen Bundesstaaten Durango und Veracrúz zu, um in den Montagefabriken an der Grenze zu den USA zu arbeiten, „so kommen sie heute eben aus Cuba“. Jobs und Wohnungen gebe es in der Stadt schließlich genug.
Am nächsten Tag sagt Pablo Montalvo einem Bekannten bei der staatlichen Stromgesellschaft Bescheid. Für umgerechnet 20 Euro zapfen Angestellte unter der Hand Strom vom Hauptkabel ab. Eine Praxis, die unzähligen Neuankömmlingen in der Stadt den Anfang erleichtert und die Weite des Wüstenhimmels mit einem dunkelgrauen Kabelgewirr seziert.
Schattenreich
Die bewohnten Häuser des Zentrums unterscheiden sich mit Stacheldraht und schmiedeeisernen Gittern von den übrigen. Vorhöfe werden von großen Hunden bewacht, die auf kleinem Raum nervöse Runden drehen. Lebende Alarmanlagen für die weniger gut Betuchten, die dort wohnen, wo sich die Innenstadt einst für Wochenendbesucher*innen von jenseits der Grenze von ihrer besten Seite zeigte. In den verlassenen Wohnhäusern, Geschäften, Arztpraxen und Bars liegen Schutt und Müll, und manchmal wächst ein Baum aus den Ruinen. Zerschlagene Fensterscheiben und eingetretene Türen zeugen von nächtlichen Besuchen von obdachlosen Drogenabhängigen, flüchtigen Bewohner*innen dieses Schattenreichs.
Der Handel mit Drogen prägt Ciudad Juárez seit genau einem Jahrhundert. Als im Januar 1920 Alkohol in den USA verboten wurde, wurde dieser in der Grenzstadt produziert und durch Tunnel ins benachbARTE El Paso geschmuggelt. Später etablierte sich eine der wichtigsten Drogenrouten in die USA. Um Amado Carrillo, den „Señor de los Cielos“ (Herr der Himmel), formierte sich das Juárezkartell.
Als im Jahr 2006 Ex-Präsident Felipe Calderón eine unheilige Allianz mit Joaquín „El Chapo“ Guzmán, dem Boss des Sinaloakartells, schloss, war ihr Ziel klar: Ciudad Juárez zu erobern. Im ausgerufenen „Drogenkrieg“ wurde die Metropole 2008 militärisch besetzt. Kriegerische Auseinandersetzungen und „soziale Säuberungen“ kosteten in den folgenden Jahren mindestens 11000 Menschen das Leben. Allein im Jahr 2010, dem Höhepunkt der Gewalt, starben über 3500 Personen einen gewaltsamen Tod. Zehntausende Familien flohen vor Raub und Erpressung. Bald standen 100000 Häuser in Ciudad Juárez leer.
Mittlerweile ist die Stadt zum Alltag zurückgekehrt. Die Wirtschaft floriert. Doch das Zentrum blieb verlassen. Nun füllen die aus Cuba Zugewanderten die Leere, die die Gewalt zurückgelassen hatte. Zumindest zeitweise, denn ihr erklärtes Ziel sind die Staaten.
„Cuba ist unsere Mutter“, verkündet Cebe dem neuen Nachbarn Montalvo, „und unser Vater ist die USA.“ Cebe will mit seiner Frau und den beiden Kindern zu Verwandten nach Florida. 38 Jahre lang hätte er in Cuba für ein gutes Leben gekämpft, jetzt will er nicht mehr zurück. „Cuba ist das größte Gefängnis der Welt“, erklärt er. „Was du alles nicht darfst, es ist unglaublich.“ Heute spalte sich die cubanische Gesellschaft nicht an der Frage, wer Revolutionsideale unterstütze, sondern wer einen Job im Staatsapparat habe. Cebe war mit einem Motorrad herumgefahren und hatte selbstgemachte Süßigkeiten verkauft. Er zeigt die Fotos auf seinem Handy. Auf dem himmelblauen Gefährt prangen Bibelpsalme. Auch deswegen habe es die Polizei beschlagnahmt. Die Beamt*innen überprüften die Herkunft der Einzelteile des Gefährts, die Herkunft der Inhaltsstoffe seiner Süßigkeiten. „Alles legal“, erzählt Cebe. Und doch hätten sie ihm erklärt, er müsse ihnen entweder 200 Dollar geben oder vor Gericht – wo ihm eine Gefängnisstrafe drohte. „Da entschlossen wir uns zu gehen.“
“Cubaner hier lang”
Cebe kaufte One-Way-Tickets nach Brasilien. Von dort reiste die Familie nach Uruguay, wo sie zwei Monate blieben und arbeiteten. Dann flogen sie weiter nach Nicaragua, mit dem Bus ging es durch Mittelamerika bis nach Mexiko-Stadt und von dort mit dem Flugzeug nach Ciudad Juárez. „Cubaner hier lang“, riefen ihnen schon die Migrationsbeamten auf dem Flughafen der Grenzstadt gelangweilt entgegen.
Cebe ist Prediger der Pfingstkirchler, Kleinunternehmer, Schweißer, Bäcker und eigentlich ausgebildeter Medizinisch-Technischer Assistent, alles auf einmal. „Doch was nützt das in Cuba?“ Er habe umgerechnet 20 Dollar im Monat verdient. Nie hätten sie Rind essen können. Hier, im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua, bekannt für seine Viehzucht, scheinen sie im Paradies angekommen zu sein. In den Supermärkten und Tankstellenshops der Grenzstadt wimmelt es von cubanischen Landsleuten, die gebannt die Auswahl der Erfrischungsgetränke in wandfüllenden Kühlschränken betrachten. Sie zahlen mit grünen Dollarnoten von Verwandten aus den USA.
Wenn Odalys auf dem Dach ihrer neuen Bleibe Wäsche aufhängt, blickt sie auf die USA. Auf den schroffen Felsen der Franklin Mountains funkelt das Wahrzeichen von El Paso, Texas, ein Stern aus Lichtern, in der Abendsonne. Damit die Soldaten, die vom dortigen Fort Bliss aus seit Beginn des Kalten Kriegs in alle Welt hinausfliegen, nach Hause finden. Und vielleicht auch vom notorischen Feiern in Ciudad Juárez.
Die Zwillingsstädte formen ein Asphaltmeer, das sich in alle Himmelsrichtungen in die Wüste hineinfrisst. Hubschrauber und Drohnen stehen über ihr wie in der Luft schwebende Insekten. Die enge Verbindung der binationalen Gesellschaft, der Wirtschaft und Kultur kann die Grenze aus hohen Stahlstreben, Suchscheinwerfern, Stacheldraht und Betonkanälen nicht trennen. Für die Neuankömmlinge aus Cuba jedoch bedeutet sie das Ende ihrer Hoffnungen und den Beginn ihrer Träume.
Odalys‘ Familie fand schnell Anschluss bei den wenigen verbliebenen Nachbar*innen. „Doch dann wurde Rafaél entführt“, der 15-jährige Sohn. Odalys und Cebe verfielen in Panik. Nach der Freilassung von Rafaél verließ die Familie noch am gleichen Tag das Tal.
„Santo Dios“, heiliger Strohsack: Odalys schüttelt sich, um die Erinnerungen zu vertreiben. Sie rafft Mantel und ihre Handtasche zusammen und schließt das Vorhängeschloss ab, das ein herausgetretenes Türschloss ersetzt. In wenigen Minuten beginnt ihre Arbeit in einem der neuen cubanischen Restaurants, die in Ciudad Juárez wie die Pilze aus dem Boden schießen. „Little Havanna“ nennt sich Odalys’ neuer Arbeitsplatz. In den 1950er-Jahren waren Fliesenboden und Glasfassade des Gebäudes hochmodern. Heute passen sie zu den riesigen Fotodrucken unter der Decke, die die Inselhauptstadt zeigen: das Havanna aus den Touristenbroschüren.
Ein Stück Karibik
Als sie die Tür von innen schließt, scheint es, als wäre man aus winterlicher Tristesse in ein 60 Quadratmeter großes Stück Karibik gefallen. Die plötzliche Wärme, das süß dampfende Essen, Salsarhythmen und ein lautes Stimmengewirr cubanischer und nordmexikanischer Akzente bilden eine Wolke aus Wohlbefinden. Frittierter Fisch, Schwein, Reis und in Kokosmilch angemachte Bohnen warten in einer Edelstahlanrichte auf nostalgische Exilierte und neugierige Anwohner*innen. Dazu werden Kochbananenchips und Malzbier serviert. Odalys erklärt die karibische Küche einer mexikanischen Großfamilie. Währenddessen versucht ihre Chefin hinter der Kasse den Überblick zu behalten.
„Mit Investitionen aus Ciudad Juárez und cubanischem Küchenpersonal zaubern wir hier Gerichte von der Insel“, spult Cristina Ibarra herunter. Zunächst kochte sie für heimwehgeplagte Geflüchtete in einem der unzähligen kleinen Hotels, keine 500 Meter von der Grenze zu den USA entfernt. „So ganz ohne Tortillas und Unmengen von Chili“, baten ihre cubanischen Kund*innen. Bis ihr die Idee zum eigenen Restaurant kam. Odalys und das Küchenpersonal sind dankbar für die Anstellung. Sie werden sich die Monate bis zur Vorladung in den USA keine Sorgen machen müssen. „Wir Cubaner*innen machen, was gerade passt, um über die Runden zu kommen.“ Improvisation, das sei etwas, was in Cuba erfunden wurde. Immer fehlte es an allen Ecken und Enden. Manchmal gäbe es kein Shampoo und an anderen Tagen nur Shampoo. „Und dann putzen wir halt das Haus damit“, lacht Odalys. Nein, aber das sei ihr wichtig zu betonen, sie liebe ihr Land. Eines Tages will sie zurückkehren und dann möchte sie ihre Insel kennenlernen. Wie die Tourist*innen.
Auf der anderen Straßenseite mustert ein Mann lächelnd die cubanische Flagge an der Fassade des Restaurants. Nein, nein, beteuert er, er habe überhaupt nichts gegen Cubaner. „Aber irgendwie ist es eine Ironie des Schicksals, dass sie heute in die Stadt strömen.“ Denn Carlos Rocha, ein bekannter Stadtchronist und Historiker, weiß, wer 1953 nach Ciudad Juárez kam. „Niemand Geringeres als Che Guevara, Fidel Castro und Carlos Cienfuegos.“ Die Väter der cubanischen Revolution suchten das, was Revolutionäre vom mexikanischen Revolutionär Pancho Villa bis zu den Zapatisten hier auftrieben – Gewehre aus den USA. „Sie schlugen das Imperium buchstäblich mit den eigenen Waffen“, sagt Rocha. Was ihn am meisten fasziniert: „Das waren Jungspunde, Mitte zwanzig, die sich hier, protegiert von Präsidenten und Bürgermeistern, für die Überfahrt nach Cuba aufrüsteten.“ Um mit einer Handvoll Leute ein Regime zu stürzen und einen neuen Staat aufzubauen. „Nachts besuchten sie die Bars und dann gingen sie von hier direkt auf die ,Granma‘.“ Das war der Name der Yacht, mit der Fidel Castro mit seinen Getreuen nach Cuba übersetzte, um das alte Regime zu stürzen.
„Davon wollen die Enkel der Revolution, die heute in der Stadt sind, nichts wissen.“ Carlos Rocha sagt von sich selbst, er sei ein Roter, als Student ein glühender Kommunist gewesen. „Aber der Mensch ist zu komplex und zu individualistisch für dieses System.“ Er schaut an der schmutzigblauen Fassade des Hotels Omare hinauf, einst das eleganteste Haus am Platz. Die Zimmer, in denen sich die berühmten Cubaner einquartierten, werden heute stundenweise vermietet. „Hübsche Mädchen gesucht“, steht auf einem handgeschriebenen Plakat in Neongrün an der Bar nebenan. Ein Mann sucht im Müll nach Dosen zum Weiterverkauf. Tauben flattern über den Platz und in die verlassenen Häuser hinein. Die Plaza Cervantina, einst ein romantisches Kleinod im Herzen von Ciudad Juárez und Heimstätte von Bohemiens, stinkt heute nach Urin.
Viele werden bleiben
Carlos Rocha glaubt, dass viele Cubaner*innen in Ciudad Juárez bleiben werden. „Die Chancen, im konservativen El Paso in den USA Asyl zu erhalten, sind gering.“ Viele Asylrichter hätten ihren Dienstweg bei der Grenzpolizei begonnen. Andererseits ist den exilierten Karibikbewohner*innen während der Amtszeit Donald Trumps die politische Konjunktur zugutegekommen. Die cubanische Hochburg Miami gilt als eine Schlüsselstadt für eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps. Deshalb sind Cubaner*innen häufig durchgewinkt worden, während Mittelamerikaner*innen mit viel dramatischeren Fluchtgründen scheiterten.
Auszug aus dem Buch „Ciudad Juárez. Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt“ von Kathrin Zeiske, Unrast Verlag 2022, Kathrin Zeiske ist in Bonn geboren und hat dort Politikwissenschaften und praktischen Antifaschismus studiert. Friedensbrigaden und Rucksackreisen brachten sie nach Mexiko, wo sie einige Jahre in einer Migrant*innenherberge arbeitete. Heute verbringt sie große Teile des Jahres in Ciudad Juárez. Von dort berichtet sie als freie Journalistin und organisiert politische Austauschreisen in die Stadt. In ihrer Freizeit versucht sie sich als Wrestlingstar. Ihren ersten Artikel schrieb sie einst für die ila. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 463 März 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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