Appell an die Bundesregierung zu ihrer Position zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems: Keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes – Gemeinsames Statement von über 50 Organisationen

Europaweit arbeiten politische und gesellschaftliche Strömungen auf die weitgehende Abschaffung des Flüchtlingsschutzes hin. Sie stellen die Allgemeingültigkeit von Menschenrechten, rechtsstaatlichen Grundsätzen und europäischen Werten infrage. Gleichzeitig beobachten wir einen massiven Anstieg und die billigende Inkaufnahme von gewaltsamen und menschenunwürdigen Handlungen gegenüber Schutzsuchenden, insbesondere an den Außengrenzen der Europäischen Union. Verstöße gegen geltendes Recht werden teils gar nicht mehr oder nur unzureichend verfolgt.

Die unterzeichnenden Organisationen sind enttäuscht über die am 28. April 2023 öffentlich gewordene deutsche Position der Bundesregierung zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Anstatt sich dem Trend der Entwertung europäischer Grund- und Menschenrechte und der Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze entschieden entgegenzustellen, signalisiert die Regierung mit ihrer Position die Bereitschaft, diesen Weg um jeden Preis mitzugehen. Damit gerät sie in eklatanten Widerspruch zu zentralen Versprechen des Koalitionsvertrags.

„Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden”, „Wir wollen bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten“, „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“

Durch die beabsichtigte Zustimmung der Regierung zu verpflichtenden Grenzverfahren ist zu erwarten, dass Standards bei der Prüfung von Schutzgesuchen in der EU so stark abgesenkt werden, dass keine fairen Verfahren mehr zu erwarten sind – zumal diese in Kombination mit der Anwendung des Konzepts der “Fiktion der Nicht-Einreise” absehbar unter Haft oder haftähnlichen Bedingungen erfolgen werden. Unterstützt die Ampel-Koalition die Absenkung der Anforderungen an sogenannte „sichere Drittstaaten”, bricht sie ihr Versprechen, jedes Asylgesuch inhaltlich zu prüfen. Asylanträge könnten so pauschal als unzulässig abgelehnt und Schutzsuchende ohne inhaltliche Prüfung ihres Schutzbegehrens in einen Drittstaat abgeschoben werden. Das bedeutet einen Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union, vergleichbar mit dem deutschen Asylkompromiss vor dreißig Jahren.

Die aktuellen Reformvorschläge rütteln nicht nur an den Grundfesten des Rechtsstaates, sondern werden auch bereits existierende Probleme des europäischen Asylsystems noch verschärfen. Die Verantwortung für die Durchführung von Asylverfahren bliebe weitgehend bei den Außengrenzstaaten, was schon jetzt zu ihrer Überlastung und der Nichtanwendung von bestehenden Regelungen, zu starken Verzögerungen beim Zugang zum Schutz sowie zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen führt. Lediglich geringfügige Veränderungen an einem dysfunktionalen System können daran nichts ändern. Stattdessen sollte lieber durch Deutschland mit Nachdruck an einer solidarischen Aufnahme von Ankommenden in der EU gearbeitet werden, welche die Rechte und Bedürfnisse der Schutzsuchenden stärker in den Mittelpunkt stellt.

Im Vorfeld des kommenden Treffens der EU-Innenminister*innen am 8. Juni 2023 appellieren wir an die Bundesregierung, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst zu nehmen:

1. Für menschenwürdige und faire Asylverfahren: Keine verpflichtenden Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen!

2. Für Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union: Keine Absenkung der Anforderungen an “sichere Drittstaaten”!

3. Für echte Solidarität in der Flüchtlingsaufnahme: Keine Weiterführung des gescheiterten Dublin-Systems!

Menschenwürdige und faire Asylverfahren statt verpflichtende Grenzverfahren

Die Ausweitung der Grenzverfahren, die mit dem Vorschlag der Asylverfahrensverordnung verpflichtend werden sollen, lässt erwarten, dass sich die humanitären Missstände an den EU-Außengrenzen noch verschärfen und der Flüchtlingsschutz durch absehbare Verfahrensmängel weiter untergraben wird. Schon heute sind Asylverfahren an den Grenzen mit systemischen Mängeln behaftet. In den geschlossenen Lagern auf den griechischen Inseln beispielsweise besteht weder eine ausreichende medizinische Versorgung noch haben Anwältinnen und Anwälte gesicherten Zugang zu den Menschen. Die Qualität und damit die Rechtssicherheit der Verfahren leiden, wenn Personen innerhalb kürzester Zeit und unter menschenunwürdigen Bedingungen ihre Fluchtgründe vortragen müssen. Das Erzählen einer Verfolgungsgeschichte bedarf des Vertrauens und eines geschützten Raumes – dies ist in Grenzverfahren in der Regel nicht möglich.

In Kombination mit der Fiktion der Nicht-Einreise werden Grenzverfahren zudem voraussichtlich zu Inhaftierungen an den EU-Außengrenzen führen. Dass die Bundesregierung Minderjährige von der Haft ausnehmen will, ist zu begrüßen, reicht jedoch nicht. Denn die Inhaftierung von Schutzsuchenden allein aufgrund ihres Schutzgesuches ist menschenrechtlich grundsätzlich nicht hinnehmbar, auch und insbesondere, weil dies gegen die Grundfeste der Genfer Flüchtlingskonvention verstößt.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung daher auf, gegen die Einführung von verpflichtenden Grenzverfahren zu stimmen.

Flüchtlingsschutz in der EU sicherstellen – keine Auslagerung in Drittstaaten

Die größte Gefahr für den Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union liegt in dem Vorschlag, die Anwendung des Konzepts von „sicheren Drittstaaten“ auszuweiten und die Anforderungen hinsichtlich des anzuwendenden Schutzes im Drittstaat abzusenken. Schutzsuchende könnten dann ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe in ein außereuropäisches Land abgeschoben werden, in dem sie möglicherweise nicht in allen Landesteilen sicher sind oder zu dem sie gar keine Verbindung haben. Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention müsste dort ebenfalls nicht gewährt werden – nach der deutschen Position soll der Schutz zwar im Wesentlichen der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen und eine Verbindung zu dem Land soll bestehen, gemäß anderer im Rat diskutierter Vorschläge liegen die Anforderungen an den Schutz jedoch weit unter diesem Niveau. Setzt sich ein solcher Vorschlag durch, wird dies voraussichtlich massiv die Gefahr völkerrechtswidriger Kettenabschiebungen in Herkunftsländer wie Syrien oder Afghanistan erhöhen.

Ein Missbrauch des Konzepts der “sicheren Drittstaaten”, der Menschen mit ernstzunehmenden Schutzgründen von der inhaltlichen Asylprüfung von vornherein ausschließt, lässt sich bereits unter den derzeitigen viel strengeren Vorgaben beispielsweise in Griechenland beobachten.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung daher auf, gegen eine Erweiterung des Konzepts der “sicheren Drittstaaten” zu stimmen.

Echte Solidarität statt Weiterführung eines gescheiterten Systems

Die anhaltende Solidaritätskrise innerhalb der EU und die unfairen Zuständigkeitsregelungen der Dublin-Verordnungen – insbesondere das Ersteinreisekriterium – führen dazu, dass Mitgliedstaaten bestehende Regelungen nicht anwenden und versuchen, immer mehr Verantwortung an Nicht-EU-Länder auszulagern. Die aktuellen Reformvorschläge verstärken die Schwachstellen des gescheiterten Zuständigkeitssystems. Das gilt auch für den deutschen Vorschlag, die Zeit für eine innereuropäische Rücküberstellung an den zuständigen Mitgliedstaat von sechs auf zwölf Monate zu verdoppeln. Derartige Vorschläge verlegen mehr Verantwortung auf die Außengrenzstaaten und sind unsolidarisch. Vor allem gehen sie hauptsächlich zu Lasten der Schutzsuchenden, die noch länger auf die inhaltliche Prüfung ihres Asylantrags in der EU warten müssen. Anstatt ein dysfunktionales System neu aufzulegen, sollte an einem tatsächlich solidarischen Aufnahmemechanismus gearbeitet werden. Entscheidend für einen neuen Mechanismus der Verantwortungsteilung ist aber, dass sich sowohl die einzelnen EU-Mitgliedstaaten als auch die Schutzsuchenden darin wiederfinden können. Er muss auch die Interessen und Verbindungen der betroffenen Menschen berücksichtigen und nach Anerkennung des Schutzgesuchs innerhalb der EU frühestmöglich Freizügigkeit erlauben.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung daher auf, gegen eine Weiterführung des derzeitigen Dublin-Systems und für eine solidarische Aufnahme in allen Mitgliedstaaten der EU, die auch die Bedürfnisse der Betroffenen stärker in den Blick nimmt, zu stimmen.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von proasyl.de. Der Text mit Fussnoten und allen 50 unterzeichnenden Organisationen findet sich hier.

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