In Italien haben sie das ja schon durch. Wenn Sie und ich das auch so haben wollten, bräuchten wir nur ruhigen Blutes zusehen, wie dieser quälende Prozess auch hierzulande ein schlechtes Ende sucht. Hier die Indizien.

Frankreich

Bernard Schmid/Junge Welt: Aufruhr in den Banlieus: Variationen der Gewalt – Ein unartikulierter Wutausbruch der prekarisierten Jugend, ein Staat, dem bloß Repression einfällt, eine Polizei, die immer öfter von der Schusswaffe Gebrauch macht. Zu den jüngsten Riots in Frankreich”. Zeigen Sie mir die*den deutsche Innenminister*in, die*der es anders machen würde als ihre blindfliegenden Kollegen in Frankreich. Hier können Sie sehen, wo das hinführt.

Bin ich schön?

Bekommt diese menschheitsalte Frage neue Brisanz? Ich meine nein. Richtig ist, dass der real existierende Kapitalismus alle gesellschaftlichen Prozesse beschleunigt und zuspitzt. Das führt zu Opfern, mit und ohne Krieg. Darum ist diese Betrachtung von Moshtari Hilal/Freitag durchaus erhellend, vor allem für die grosse Mehrheit derer, die es angestrengt zu verdrängen versuchen: Gut aussehen ist alles: Kein Wunder, dass schon Achtjährige weltweit das wissen – Einer Studie zufolge ist das Aussehen der wichtigste Faktor für das Selbstwertgefühl von Kindern – wichtiger, als gut in der Schule oder im Sport zu sein. Uns als Erwachsene sollte das einen Spiegel vorhalten, findet”.

Die Kinder ignorieren nichts. Das können sie sich gar nicht leisten, s. Klimapolitik. Das Abschieben der Sünden auf die asozialen Netzwerke (oder zu meiner Jugendzeit: Medien und Sexwerbung) ist zu billig. Kinder spiegeln unbarmherzig, was sie insgesamt gesellschaftlich sehen – ein Prozess virtuoser Komplexität der sich noch bildenden Hirnstränge. Die machen das schlau, viele sehen wir dabei erkranken, einige auch sterben, andere in Intelligenz erblühen – Klassengesellschaft. Die Verursacher*innen sind wir, die wir das Gesellschaftssystem so werden liessen, wie es ist.

Der Freitag, in dem Hilals kluger Text erschien, spart übrigens selbst nicht mit Fotos seiner schönsten Autorinnen. “Ein Bild sagt mehr … ”

Wieder da: Corona

Das Virus ist wieder da. Wer mag es willkommen heissen? Politik und Gesellschaft sind von diesem Tempo erschöpft. Denn was ist seit dem “Beginn” (war es ’20? war es ’21? – ich habs schon verdrängt, oder ist es Demenz?)  eigentlich gelernt worden? Wenn ich meinen ersten Text zu dem Thema nehme, ist weder in der deutschen Gesundheitspolitik noch in der Arbeitsweise hiesiger Machtmedien irgendein Klugheits- oder Erfahrungsspin eingezogen.

In erbarmungswürdiger Weise legen sie das offen, wenn mal einer fragt, z.B. Andreas von Westphalen/telepolis: Übersterblichkeit: Zu viele Menschen sterben und keinen interessiert es – In den letzten beiden Jahren ist eine ausgeprägte Übersterblichkeit festzustellen. Erstaunlicherweise sind die Zehntausende Menschen, die mehr gestorben sind, als erwartet wurde, kaum ein Thema in Medien und Politik.”

Lernen? Dazulernen? Aus Fehlern lernen?

Ich fürchte, sowas ist undeutsch. Insofern wären wir also doch angemessen repräsentiert: Roland Bathon/telepolis: Baerbock und die Drohnen auf Moskau: völkerrechtlich unbedenklich? – Deutsche Außenministerin hält ukrainische Drohnenangriffe für ‘vom internationalen Recht gedeckt’. Warum das für eine Völkerrechtlerin erstaunlich ist.”

Klassenpolitik und Selbstreferentialität

Ist es ausgefuchste Klassenpolitik? Oder das Sägen am eigenen Ast? Caitlin Johnstone/nachdenkseiten: “US-Medien: ‘Der Klassen-Faktor im Journalismus wird übersehen’ – Es sind nicht nur die obszön reichen Eigentümer der Massenmedien, die ihre Klasseninteressen schützen – sondern ebenso die Reporter, Redakteure und Mediengurus. Diese Ansicht vertritt die australische Journalistin Caitlin Johnstone in ihrem zugespitzten Kommentar zum sozio-ökonomischen Hintergrund der US-Medienlandschaft. Übersetzung von Susanne Hofmann.”

Deutsche Untersuchungen kommen zu ähnlichen Befunden wie Mrs. Johnstone. Es ist jedoch schon lange sichtbar, dass Massenmedien mit derart mangelhafter Diversität die Kenntnis gesellschaftlicher Wirklichkeit und die Entwicklung adäquater Strategien für sich selbst katastrophal verfehlen. Immer weniger Menschen wollen von ihnen noch was wissen, und zwar klassen- und politikübergreifend. Es ist ein Qualitätsproblem. Das Publikum weiss Bescheid und handelt entsprechend konsequent.

Deutscher Hauptstadtbetrieb unterminiert sein Fundament: L’erosione della fiducia

Eine besonders grob geschnitzte These behauptet, das Volk wende sich ab, weil die Politik zu viel streitet. Das ist Bullshit. Wenn die Politik mal nicht mehr streitet, wissen wir: Democracy is over.

Entscheidend ist, worüber gestritten wird. Und was am Ende unten rauskommt (Helmut Kohl). Das sieht bei der Kindergrundsicherung besonders schlecht aus. Die FDP macht ihren Job, die Anderen nicht. Die FDP schafft es, dass noch weniger Lust haben, überhaupt noch an Wahlen teilzunehmen. Eine wichtige – notwendige – Bedingung für ihre eigenen Wahlerfolge. Und die der AfD.

Die anderen Regierungsparteien lassen sich von diesen neoliberalen Zwergen wie nach Rezeptbuch zerlegen. Ich bin nicht überrascht, dass ein Grüner Bundesminister seine kämpfende Partei”freundin” in den Regen stellt. Womöglich hat Robert Habeck sich, nachdem er vor der Bundestagswahl gegen Annalena Baerbock den Kürzeren zog, geschworen, dass ihm das mit einer Frau nie wieder passieren werde – also ein Testosteronproblem.

Andere, die noch Träume auf die Grünen projizierten, wird das enttäuschen. Oder sie sind sowieso schon weg.

Darauf ist die SPD in der Hauptstadt so neidisch – immerhin bringen solche Raufereien untereinander endlich mal Aufmerksamkeit – dass sie nicht mehr zurückstehen will.

Die “Sonstigen” kommen bei immer mehr Wahlumfragen über 10%. Aber die grösste Gruppe, in Kürze eine Mehrheit, wird gar nicht mehr wählen kommen.

Ich bin dafür, dass Sie sich auch persönlich mehr in “der Politik” engagieren. Es muss ja keine Partei sein. Verbände, Vereine oder Initiativen tun es auch. Sie werden immer überrascht sein, vor wem sie sich am meisten inachtnehmen müssen. Es sind nicht die Klassenfeinde oder Gesinnungsgegner. Es sind die, die Ihnen am nächsten stehen. So, wie ihr Gatte nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit am ehesten der ist, der Sie umbringt. Am gefährlichsten ist es nicht draussen im Park oder auf der Strasse, sondern zuhause. Oder in der eigenen Partei / dem eigenen Verein.

Fiducia? Luogo inesistente.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net