Nils Schmid ist ein fleißiger und rhetorisch guter Politiker. Er ist kein Schreihals der Sozialdemokratie, gehört keinem Flügel an und ist mit beachtlicher Reputation aus den fünf Jahren Grün-Roter Koalition mit dem Kretschmann hervorgegangen. Er hat keine Gegner von Stuttgart 21 gegen sich aufgebracht. Er hat die Finanzen des Landes solide und schwäbisch verwaltet, seine sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen haben gut ihre Ministerämter geführt. Er ist rechtschaffen und bürgerlich, belesen und intelligent, auch schlagfertig und schwätzt schwäbisch. Alles Eigenschaften, die im konservativen Baden-Württemberg jeder Sozialdemokrat, der erfolgreich auftreten will, mitbringen muss.

Das traf für Dieter Spöri zu, auf Ulrich Lang und Ulrich Maurer, solange er in der SPD war, auf Erhard Eppler und Ute Voigt nur eingeschränkt, denn während Eppler mit seinem Intellektuellen-Image wie Willy Brandt zwar die Jugend mitreißen konnte, kam er bei der Bürgerbasis nicht an. Zwar kam Ute Vogt als Frau ziemlich direkt, aber wieder für das Land etwas zu forsch daher, weil es damals noch die Grünen links von der SPD wahrgenommen gab. Bei dieser Wahl war das aber anders. Schmid kommt immer noch recht jugendlich daher, weshalb er bei manchen älteren Wählern durchaus als “Kretschmanns Sohn” hätte als wählbar durchgehen können. Er hat wirklich alles richtig gemacht, aber doch verloren. Deshalb muss dringend die Frage gestellt werden, warum. Dazu ist es unverzichtbar, einen Blick auf die Gesamtkonstellation der Kandidaturen bei dieser Landtagswahl und auf die politischen Rahmenbedingungen zu werfen. Nur dann ist die desaströse Niederlage der SPD zu erklären und kann ihr vielleicht Hilfe zur Befreiung aus dieser Situation erwachsen. Wer in Baden-Württemberg an die Macht will, muss einige wenige gute Ideen haben, bürgerlich auftreten, die Wirtschaft auf seine Seite ziehen und – Sicherheit vermitteln. Der gerade verstorbene Lothar Späth verstand dies, zu vermitteln.

Kretschmann der ideale Kandidat

Diese Rolle war bei der vergangenen Wahl mit Winfried Kretschmann ideal besetzt. Er betet wirklich, dann auch noch für Merkel und macht sich Sorgen um Europa und das große Ganze, das in der Krise bewahrt werden muss. Neben dem Ministerpräsidenten war also kein Platz für einen Sohn, Musterschüler oder schwäbischen Bilderbuch-Sozialdemokraten, wie ihn Nils Schmid gibt. – Ohne Kretschmann. Was blieb dann für die SPD? Im Land nicht viel, weil Landespolitik sich nicht über mehrere Repräsentanten definiert, es sei denn, man fährt einen Konfliktkurs, wie ihn Grüne und SPD zwischen 1995 und 2000 in der Landespolitik Nordrhein-Westfalens gefahren haben. Doch so etwas passte nun gar nicht in die Konstellation.

Arbeitermilieus verloren

Was die SPD nicht oder nicht erfolgreich erledigt hat, ist die Kernerarbeit vor Ort, die darin besteht, eine vor Armut und Deklassierung verängstigte, kleinbürgerliche Wählerschaft, die durchaus durch materielle Verlustängste zu verunsichern ist und die damit auch für Agitation von rechts offen war und ist, argumentativ und ständig durch Veranstaltungen, Gespräche und Kommunikation an sich zu binden. Der Verlust der Wahlkeise Pforzheim und Mannheim I ist ein klarer Indikator dafür, dass die SPD es zumindest nicht geschafft hat, dem Treiben der AfD dort erfolgreich entgegen zu wirken. Das ist nicht unbedingt die Aufgabe des Spitzenkandidaten, – aber sie muss erledigt werden und zwar nicht im Wege der “Antifa” durch Stigmatisierung der potenziellen Wählerinnen und Wähler, sondern durch argumentative Auseinandersetzung mit rechten Parolen, Gerüchten und Halbwahrheiten. Nicht im Sinne des Zuschmeißens der Angesprochenen mit Zahlen, sondern indem über Grundsätzliches diskutiert wird. Über das, was unsere Gesellschaft zusammen hält. Über Gerechtigkeit, über Menschlichkeit, Glaubwürdigkeit, Hoffnungen, über Träume und Verzweiflung. Über die Träume, die wir alle von einer besseren Gesellschaft für unsere Kinder haben. Über die ehrliche Beantwortung der Frage, ob wir oder unsere Kinder diese in TTIP finden werden. Das ist in der SPD kontrovers und muss es auch bleiben dürfen. TTIP ist der Nachrüstungsbeschluss Sigmar Gabriels. Daran hängen nicht nur grün-nahe Stimmen, sondern inzwischen auch solche der AfD.

Soziale Bindung weg

Was ist noch Aufgabe der SPD? Darzustellen, dass es mit den sozialen Leistungen besser wird und was man selbst und mit der SPD dafür tun kann. Ich kenne einige vor allem ältere Genossen im Ruhrgebiet, aber auch in Bonn, die das konnten und können, die in Arbeiterbezirken, Sozialwohnungen und Ghettos das ganze Jahr lang unterwegs sind und reden, streiten und vor allem niemend nach dem Mund reden. Denn viele Wähler wollen gar nicht, dass Du sie überzeugst – sie wollen sehen, ob Du für das einstehst, was Deine Position ist und dann hast Du eine Chance, zu überzeugen. Diese Kernerarbeit ist durch kein iPhone zu ersetzen. Das scheint der SPD in vielen Wahlbezirken noch gefehlt zu haben. Aber – das ist auch glasklar: Ohne Änderungen der Positionen in der Erbschaftssteuer und der Vermögenssteuer ist die SPD langfristig auf die Verliererstasse verbannt.Eine zweite wichtige Rolle ist aber in der Gesamtkonstellation unbesetzt geblieben: Die Rechtfertigung der SPD und ihrer großen Koalition in Berlin. In einer politischen Krise wie der jetzigen – und das hat Kretschmann geholfen und Malu Dreyer geholfen – gewinnt Wahlen immer derjenige, der das Bestehende, das beständige verteidigt und dadurch Sicherheit vermittelt. Hätte Merkel gesagt “Wir schaffen das nicht”, wäre sie möglicherweise bereits politisch weg vom Fenster. Kretschmann und Dreyer wurden gewählt, weil sie zur Politik der Kanzlerin standen und ihr anders als Wolf und Klöckner nicht in den Rücken gefallen sind. Wo aber war oder ist in dieser Konstellation die Bundes-SPD ? Sie ist mit verantwortlich für den Kurs der Kanzlerin, sie hätte diesen viel mehr offensiv stützen müssen, anstatt wie Sigmar Gabriel gutmeinend versuchte, im Chor der kommunalen und landespolitischen Schreihälse mit der Armenförderung wegen Flucht noch ein weiteres Faß aufzumachen!

Gabriel nicht klar

Sigmar Gabriels Rolle wäre gewesen und wäre es eigentlich auch weiterhin, der CSU und dem unverantwortlichen politischen Hazardeur Horst Seehofer klare Kante zu zeigen, zur Not auch verbal auf die CSU loszugehen! Wer, wenn nicht die SPD, muss doch zeigen, dass der Riesenzwerg aus Bayern irrt, indem er ständig die Kanzlerin konterkariert und der AfD damit indirekt recht gibt! Wie kann ein Vizekanzler, der sonst wenig Themen besetzen kann, sich die Gelegenheit entgehen lassen, die CSU und die AfD frontal anzugehen, in all dem scheinchristlich-abendländischen Gesülze der AfD und PEGIDA das zu diskutieren, was unsere Gesellschaft zusammenhält: Solidarität, ökonomische Gerechtigkeit, Frieden in Europa, gut bezahlte Arbeit und sozialdemokratischer Humanismus – nicht Hass der Rechten. Stattdessen sind immer noch die Bilder präsent, wo er sich im Freizeitpulli in PEGIDA-Veranstaltungen begibt – was sollte das denn, dafür hat ein SPD-Vorsitzender doch seine Mitarbeiter, Jusos oder Gewerkschafter! Seine Aufgabe ist doch, vorzugeben, wo es hingehen soll in Europa, gemeinsam mit dem Außenminister, der versucht, Frieden zu stiften, vor Ort zu erklären, wie wichtig dieser Frieden für uns alle und für Europa ist.

Auseinandersetzung suchen

Die SPD muss die Auseinandersetzung mit den latenten Rechtstendenzen suchen und zwar argumentativ. Die AfD ist keine bürgerliche Partei. Denn zur Bürgerlichkeit gehört ein kleines Quentchen Liberalität. Selbst Franz-Josef Strauß – der alte Waffenhänder und Intellektuellenbeschimpfer war es und die CSU ist bürgerlich. Wie auch bei aller Polemik Bayern mit Flüchtlingen orgentlich und anständig umgeht. Bürgerlichkeit bedeutet, konservativ zu sein, aber zu den Grundrechten der Verfassung zu stehen und ethisch zu handeln, was einfach schon das Denken ausschließt, man könne Boote mit Flüchtlingen wieder aufs Meer hinaus schleppen oder Menschen als “Ströme” oder Wasser zu bezeichnen, gegen das ein Rohr abgedichtet werden muss oder auf Flüchtlinge schießen. Solches Denken ist extremistisch, ist menschenverachtend, ist gegen die Gebote von Religion und nichtreligiöser Menschlichkeit. Und darüber müssen wir laut und deutlich sprechen. Über Ethik, über Grundsätze und über Wahrhaftigkeit. Denn vielen AfD-Wählern ist nicht oder nicht mehr bewusst, dass feixende Häme und billiger Nationalismus in Tankshows mit unmenschlichen Vergleichen in Publikationen einher gehen, wie in der Baden-Württembergischen Wahlzeitung “Extra-Blatt”, in der sich ein Autor entblödete, das Foto von einem ertrunkenen Flüchtlingskind mit einem Text zu versehen, der behauptete, der wahre Schuldige am Tod des Kindes sei sein Vater, der als einziger der Familie eine Schwimmweste getragen habe und seine Familie auf das Boot geführt habe. – und dies habe die Presse hier “unterdrückt”. Wer so etwas schreibt, das müssen wir klar machen, der stellt sich außerhalb des Grundgesetzes, außerhalb der Solidargemeinschaft, ja außerhalb der Zivilisation. Genau da steht die AfD.

Hätte das ein Finanzminister in Baden-Württemberg nicht sagen können, ja müssen, im Wahlkampf? Wenn er es gesagt hat, ist es nicht genügend gehört worden. Dann hätte es erst recht der Vorsitzende der SPD sagen müssen – auch von ihm habe ich es nicht gehört. Die SPD muss auch deshalb darüber sprechen, weil das auch Leute wie Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine etlarvt, wenn sie über Reduzierung der Flüchtlingszahlen schwadronieren. Aber das ist nur ein Nebenschauplatz der notwendigen grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem wofür unser Gemeinwesen steht, auf welches Fundament sich unser Land heute und in Zukunft gründet.

SPD tief hinab

Die große, über 130 Jahre alte sozialdemokratische Partei muss nun vielleicht wieder einmal tief hinab lauschen zu den Gründen und Begründungen ihrer humanistischen und sozialen Wurzeln, des Gemeinsinns, der Solidarität und der Wertschätzung jeglicher Person, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Religion und dem Wissen, dass die Würde und gewisse unveräußerliche Rechte unantastbar und nicht zu nehmen sind. Wer sollte das sonst tun, wenn nicht die SPD? Wer anders sollte davon ernsthaft und leidenschaftlich, gegen hohle Worte und Formeln der Tagespolitik reden können, als der Vorsitzende der SPD? Wer anders kann von seinen Genossinnen und Genossen verlangen, dasselbe zu tun, darüber zu reden, was außer Euro, Urlaub, Schule, Rente, Fußball unser Gemeinwesen zusammenhält?

Wir leben in Deutschland in einem der reichsten Länder des Planeten, auch wenn es bei uns zu oft ungerecht zugeht. Auch wenn die Schere zwischen Arm und Reich inzwischen unerträglich weit auseinanderklafft. Das zu ändern ist Aufgabe der Sozialdemokraten – lasst uns drüber streiten. Denn Wohlstand – den haben wir – braucht zivile Werte und humane Ethik – das haben wir nicht mehr überall. Friedrich Ebert, Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt würden das heute fordern. Also los – gemeinsam Seit an Seit. “Wir wollen – mehr Demokratie wagen” diese Worte des frisch gewählten Bundeskanzlers Willy Brandt dürfen niemals vergessen werden. Sie sind Auftrag und Verpflichtung, denn auch damals sind alte Strukturen zerbrochen, haben neue Generationen in die gesellschaftlichen Positionen gedrängt. Die Demokraten müssen etwas tun, bevor es ihnen die Antidemokraten aus den Händen nehmen!

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net