Christians kleines Lehrstück in Sachen politischer Simulation
Der FDP-Vorsitzende will das Papier seines (ehemaligen) Generalsekretärs, das auch die inzwischen berühmte FDP-Kommunikationspyramide hier unten enthält, „nicht zur Kenntnis genommen“ haben. Ich muss bei solchen Formulierungen schon an Krimis oder Politthriller denken, wo der Hauptdarsteller dann sagt: „Das darf ich nie gesehen haben“ oder „Dieses Gespräch hat nie stattgefunden“.
Bei Lindner ist das aber noch subtiler, denn er baut vor, indem seine Formulierung („keine Kenntnis …“) auch hergibt, dass er eine Art Halbwahrnehmung gehabt haben könnte – in Philosophensprache übersetzt: nie einen „fokalen“ Bewusstseinsanteil auf das Papier gerichtet zu haben, der dann eine klares Wissen erzeugt hätte – aber womöglich doch mit einem nicht ganz so klaren und mehr nur „horizonthaften“ Wissen um allgemeine Inhalte ausgestattet zu sein.
Sehr geschickt, wie Lindner hier eine Rückfallposition aufbaut, um allenfalls ein Wissen um die Vorgänge gehabt haben zu müssen, das nicht konkret genug war, um früher Eingreifen zu müssen, und das deshalb auch nicht ausreichend ist, um jetzt im Nachhinein wirklich Verantwortung übernehmen und das heißt selbst zurücktreten zu müssen. Wirklich ein Lehrstück in Sachen defensiver Kommunikation, und vom rein „politzockerischen“ her gesehen kein schlechter Move.
Der eigentliche Coup in Lindners Kommunikation ist allerdings die offensive Politsimulation, die sich daran anschließt. Wer seine Interviews in den letzten Tagen verfolgt, wird nicht nur bemerken, wie er der Frage aus dem Weg geht, ob und wieviel er von dem D-Day-Papier gewusst hat, sondern auch den überaus penetranten Versuch, sofort den vermeintlich „großen Sinn“ seines Handelns herauszustellen, dass er die Bundesrepublik nämlich dringend von der Ampelkoalition befreien musste, um das Land mit Versatzstücken einer FDP-Parteiideologie endlich heilen zu können. Der Mann hat also „Inhalte“, so soll es scheinen, ja, er hat eine „Mission“, während die anderen das Land immer mehr in die Krise reiten. An dieser großen Erzählung will Lindner gemessen werden, und nicht an den Nickligkeiten in bloßen Mitarbeiterpapieren. Das ist der zweite und offensive Move.
Der postmoderne französische Philosoph Jean Baudrillard kannte sich gut aus mit „Großen Erzählungen“, und er wusste auch um die Simulationen, die sich in ihnen vollziehen, und um den Aufbau einer Simulakrenwelt, in der Simulationen das einzige sind, was irgendwie noch wahrgenommen wird. Lindners Inhaltspapiere sind ziemlicher Bullshit, d. h. zusammengestoppelt aus FDP-Glaubensgrundsätzen und dann als augenblicklich und auf Gedeih und Verderb zu erfüllende Maximalforderung lanciert. Wer solche Forderungen stellt, der ist mit der Abrissbirne unterwegs, er will nicht Politik machen, sondern einfach nur abreissen und das Ganze dann als heroischen Überzeugungsakt darstellen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die D-Day-Pyramide der FDP sehr gut als Bauplan für ein politisches Simulationsspiel verstehen:
I Der „Impuls“, das sollte das von Lindner heroisch verkündete Ampelaus sein, eine Meldung, die einschlägt wie ein Blitz und ihm absolute Aufmerksamkeit verschafft.
II Das „qualitativ zu setzende Narrativ“ sollten dann die FDP-Phrasen darüber sein, womit das Land jetzt dringend zu kurieren sei.
III Die „quantitative Verbreitung“ des Narrativs sollte dessen unendliche Wiederholung in Talkshows und Interviews sein.
IV Die „offene Feldschlacht“ sollte dann schließlich die Auseinandersetzung mit den anderen Parteien sein, in der die Lindner-FDP obenauf liegt, weil sie ja mit dem „Mut“ und der „Entschlusskraft“ ihres Vorsitzers alles daran gesetzt haben will, das Land unter höchstem Risiko für die eigene Partei und Person zu retten.
Was in der D-Day-Phase IV so zum Tragen kommen sollte, wäre für Baudrillard eine rein „präzessive“ Politik. Das heißt, politische Schein-Inhalte, die nicht dazu da sind, Probleme zu lösen und gute Kompromisse zu ermöglichen, sondern nur, um als maximalistische Spielmarken in einer selbst inszenierten „Feldschlacht“ zu dienen, in der man für sich selbst maximale Aufmerksamkeit erzeugt, um im Fall der FDP wieder genügend Wähler zu gewinnen und über die 5-%-Hürde zu kommen.
Eine solche Politik-Simulation ist inzwischen zum Kernprinzip der Lindner-FDP geworden. In der D-Day-Pyramide stecken nicht 0%, sondern 200% Lindner, das ist genau seine Denke, mit der er die Politiksimulationen seines Ziehvaters Möllemann noch einmal toppt und perfektioniert.
Lindner ist der größte Politikzocker in der Geschichte der Bundesrepublik. Es wäre gut, wenn er bald geht.
Ich empfehle ergänzend René Martens/MDR-Altpapier: “Lügen boomt – Christian Lindner bezieht sich in der Sendung ‘Caren Miosga’ positiv auf einen ultrarechten Regierungschef. Zu viele US-Medien sind nicht willens, die von Donald Trump als Regierungsmitglieder ausgewählten Personen als die Verschwörungstheoretiker und Extremisten zu bezeichnen, die sie sind.” In diesem Text bestätigt er vollinhaltlich den Topos vom “Ziehvater Möllemann”, ohne ihn explizit zu benutzen.
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-3944.html
Lieber Reinhard, ich bewundere ja, welch gute und akademisch gebildeten Gedanken Du an ein kleines, intrigantes, amoralisches und zu jeder Lüge bereites Individuum verschwendest. Die FDP saß schon jahrzehntelang richtig im Bundestag ganz rechts und von 2017-2021 direkt neben der AfD. Schreib über was schönes und denk an Noelle-Neumann’s “Schweigespirale”. Die “Norne vom Bodensee” (Joschka Fischer) hätte ihn vielleicht anders verdemoskopiert. Das schlimmste aber ist: Die FDP verfügt über soviel Immobilien im Osten (aus der Erbschaft von LDPD, NDPD – Blockflöten), dass sie praktisch nicht pleite gehen kann, auch wenn sie wieder mal für 4 Jahre unter 5% fällt.