Können Islamisten Pragmatiker werden?
Ich habe diese Frage Prof. Dr. Volker Perthes gestellt, langjähriger Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (2005-20) und Sonderbeauftragter der UN für den Sudan, Kenner des Nahen Ostens seit über 40 Jahren und Freund aus gemeinsamen Zeiten bei den Jungdemokraten. Denn nach dem wirklich frappierend schnellen Abgang des langjährigen Diktators Assad fragen sich nun viele, was es auf sich hat mit den neuen Inhabern der Macht. Nach den Rückschlägen des “arabischen Frühling” in inzwischen allen Ländern, in denen damals der Funke der Demokratie aufleuchtete, sind bei aller Freude über die Flucht Assads die Befürchtungen berechtigt, wie in einem oder zwei Jahren Syrien aussehen mag.
Der “Spiegel” hat am 7.12. schon einiges über die verschiedenen Gruppen geschrieben, die den Kirieg gegen Assad gewagt haben. Ausnahmslos waren es ehemalige Terroristen, zum Teil mit Al Quaida verbündet, teils mit dem IS im selben Boot. Deshalb nochmal die Frage an Volker Perthes:
Können Islamisten Pragmatiker werden?
“Klar können sie das. Nur ist das nicht garantiert. Politische Aktivisten/Rebellen/autoritär-islamistische Milizführer sind oft genug ja auch Opportunisten – auch im positiven Sinne, dass sie Gelegenheiten zu nutzen verstehen- , lernen dazu. Herr Sharaa (Julani), den ich nicht kenne, ist sicher kein Demokrat (wo sollten die auch herkommen in Syrien – die Syrian Democratic Forces mögen sich so nennen, sind es aber auch nicht), eher ein schlauer Autokrat.” Diesen Eindruck bestätigt die Tatsache, dass Sharaa ein bisschen wie Wolodomir Selenskij auftritt, im Kapuzenpulli, ohne die afghanisch-steinzeitliche IS-Montur. Zweifellos haben ihn schlaue Menschen beraten, möglicherweise solche aus der Türkei oder einer internationale PR-Agentur..
Was seine Aussagen wert sind, werden die nächsten Jahre zeigen
Vergessen wir nicht, dass sich auch mit Baschar al Assad ganz zu Anfang seiner Amtszeit Hoffnungen aud Demokratisierung verbanden. Von seinem Vater nicht ausersehen, ihm nachzufolgen, hatte er ein europäisches Leben u.a. in Großbritannien geführt, dort seine Frau kennen gelernt und schien zunächst nicht der Schlächter zu werden, der er de facto dann wurde. Die neuen Herren scheinen besser beraten zu sein. Volker Perthes sieht das so: “Gut beraten, wie es scheint, so dass er bislang die richtigen Sachen sagt – zu den Rechten von Frauen, von Minderheiten, zur Kooperation mit allen, und dass alle zusammenarbeiten sollen. Ich weiß nicht, ob er diese Linie beibehalten wird, wenn die ersten Konflikte über die Verteilung von Positionen und Ressourcen aufbrechen. Oder wenn andere von der Türkei ausgerüstete und gesteuerte Rebellen zuerst mal eine türkische Agenda befördern und gegen die kurdischen Milizen (SDF) in Syrien vorgehen.”
Türkische Rolle und Interessen entscheidend
Vom ersten Tag der neuen Offensive an wurde deutlich, dass hier wieder einmal Erdogan und die Türkei eine wichtige Rolle spielen würden. Die Unterstützung und Bewaffnung von Rebellen – damals des IS – mit Waffen, Logistik, medizinischer Hilfe und Finanzen spielte sich lange in einer Grauzone ab, wurde aber durch Journalist*inn*en entlarvt, die sich anschließend in Gefängnissen des türkischen “Sultan” Erdogan wiederfanden. Aber die Zeiten sind heute andere, auch Jihadisten könnten gelernt haben. Hierzu Perthes: “Was ich sagen will: ich glaube nicht, dass das Problem in der Vergangenheit des ‚Jihadisten‘ Sharaa liegt — mit dem IS und al-Qaida hat er sich ja nun wirklich überworfen — sondern in den objektiven Schwierigkeiten einer sehr schnellen ‚Transition‘, Sabotageakten des harten Kerns des alten Regimes, den offenen Rechnungen vieler, sehr vieler Bürger und Bürgerinnen mit diesem alten Regime, und in den Differenzen, Interessen- und Machtkonflikten, die notgedrungen entstehen, wenn eine doch ziemlich breite Rebellenfront ein diktatorisches Regime stürzen, das nicht nur seit 54 Jahren geherrscht, sondern auch unter Asad-Sohn einen ziemlich hohen Rekord an Menschenrechtsverletzungen errungen hat.”
Wie geht es weiter in Syrien?
Hier bremst Perthes und verweist auf die Langwierigkeit von Gesprächen und diplomatischen Prozessen. Denn es ist erfahrungsgemäß kein einfacher Vorgang, den geordneten Übergang von einer Diktatur hin zu einer demokratischen Gesellschaft zu organisieren – wenn der Wille denn ehrlich vorhanden ist. Um das zu beurteilen, ist es wohl noch viel zu früh: “Sorry, ich will nicht zynisch sein; aber ich glaube, man muss verstehen, dass die Mehrheit der Syrer und Syrerinnen (auch meine säkularen, anti-islamistischen syrischen Freunde) jetzt erstmal feiern, dass ein Regime, das Chemiewaffen und Fassbomben en gros gegen sie eingesetzt hat, gestürzt worden ist. Und dann hoffen, dass das Angebot der UN, bei Gesprächen über ein pluralistisches Übergangsarrangement zu helfen, angenommen und auch von anderen externen Kräften, die jetzt gewonnen oder verloren haben, in jedem Fall aber ihre eigenen Interessen verfolgen, nicht unterlaufen wird.”
Was kann Deutschland, die EU und die Zivilgesellschaft tun?
Selten haben sich so viele Flüchtlinge, aber auch hier seit zehn und mehr Jahren lebende Staatsbürger*innen mit syrischem Migrationshintergrund, so positiv und dankbar gegenüber dem geäußert, was ihnen als Geflohene in Deutschland zugute kam. Viele davon haben hier demokratische Freiheitsrechte erfahren und verinnerlicht und verdienen es, auf welche Weise auch immer, als Botschafter der Demokratie zu wirken – da ist ein unschätzbares Band der Solidarität gewachsen, das unbedingt erhalten werden muss und menschlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich große bilaterale Zukunftschancen eröffnen kann. Deshalb steht die Frage auf der Tagesordnung, was eine künftige Bundesregierung an Aufbauhilfe für Syrien leisten kann und sollte, denn die über 900.000 Flüchtlinge, von denen sicher ein Teil nach Syrien zurückgehen wird, sollten dort stabile politische Verhältnisse eintreten, sind eine gute Basis für eine ökonomische und zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit.
Verabscheuungswürdige Denkkategorien der “politischen Mitte”
Leider begannen am Montag bereits vor der AfD zahlreiche Zeitungen und Medien, die Frage der “Rückführung” von Flüchtlingen zu thematisieren und damit die AfD im vorauseilenden Gehorsam rechts zu überholen. Und leider auch in der CDU/CSU, bei der Linnemann, Merz und Söder jederzeit für unmenschliche, rassistische und vor allem sozial spalterische Forderungen gut sind. Das BAMF hat zunächst alle Asylverfahren von Syrer*inne*n zunächst ausgesetzt – weil die Lage unklar ist. Wer aber zwei Tage nach einem Umsturz, von dem noch niemand weiss, wohin er sich entwickelt, bereits wie Jens Spahn den Mini-Höcke gibt und “Rückkehrprämien” für Syrer fordert, kann doch nicht ganz bei Trost sein. Schlimmer noch, wenn bürgerliche Medien, die wie der “Kölner Stadtanzeiger” einmal als linksliberal galten, bereits am Montag nach dem Fall von Damaskus auf den ersten drei Seiten über nichts anderes spekulieren, als über Ausreise, Abschiebung, Flüchtlingsstatus von Syrerinnen und Syrern: Wie verludert und menschenrechtsverachtend sind eigentlich inzwischen Teile der “Demokratischen Mitte” geworden? Als wollten sie der AfD und ihren Anhängern den Tipp geben wieviele Menschen – rund eine Million Syrer – für Massenabschiebungen infrage kommen.
Politisches Klima erfolgreich nach rechts verschoben
Zumal völlig offen ist, wie die Lage der Demokratie und der Minderheitenrechte sich in absehbarer Zeit entwickelt. Denn insbesondere die Menschenrechtslage der Kurdinnen und Kurden und der YPG, die Erdogan als Erzfeind bekämpft, sieht derzeit nicht rosig aus. Wer in dieser Situation nichts anderes zu tun hat, als auf die Abschiebung von Menschen zu dringen, hat sich selbst massiv disqualifiziert. Ihre Flüchtlingspolitik könnte der CDU/CSU noch schwer auf die eigenen Füße fallen. Selbst Markus Lanz brachte den innenpolitischen Sprecher der CDU/CSU im Bundestag aus dem Konzept, als er ihn mit einer Formulierung von Alice Weidel konfrontierte, die der seinigen zu 99% entsprach.
Nicht zuletzt: Sollte sich das Regime in Syrien als das entpuppen, was die Taliban in Afghanistan sind, müssten wir ganz andere Konsequenzen ziehen. Wir wissen es nicht, weil Syrien traditionell ein mulitkultureller und multinationale religiös pluraler Nationalstaat war. Das ist die Geschichte Syriens, und das wird sich im Kern wohl kaum ändern. Vielleicht könnten Deutschland und auch die Schweiz mit ihren Bundesländern und Kantonen ein Beispiel für ein föderales Syrien sein. Aber das sind politische Träume für Übermorgen.
Update 13.12.
Der zitierte Volker Perthes morgen um 6.50 h live im DLF-Interview. Wird im Anschluss hier verlinkt.
Ich habe die Tendenz dieses Artikels sehr begrüßt, gibt es doch zuviele Beiträge, die nur geifernd Abschiebung schreiben. Es hätte dem Beitrag gut getan, wenn er vor der Veröffentlichung noch einmal gelesen worden wäre, damit abgeschnittene Gedanken zu Ende geführt worden wären, siehe etwa Lanz. Danke aber, dass Sie das Thema in dieser Weise aufnehmen.