Wundersame Bahn CCXII
Wir bekennen uns. Die ila-Redaktion ist Fan der Eisenbahn. Besser gesagt: eines Bahnverkehrs, wie er idealerweise Personen und Güter transportieren könnte. Einige Redaktionsmitglieder haben aus Überzeugung nicht einmal den Führerschein. Aus Klimaschutzgründen, aber auch, weil das Reisen mit der Bahn prinzipiell fabelhaft ist. Gut, unsere Begeisterung für die Bahn wird im Pendler*innenalltag wie auch im Urlaub hart auf die Probe gestellt. An dieser Stelle wollen wir aber nicht in den dröhnenden Chor des DB-Bashings einstimmen oder unsere Hitliste mit den absurdesten Reiseanekdoten publizieren. Wir wollen lieber sehen, wie es anderswo läuft.
Kolumbiens Präsident Petro setzt zum Beispiel auf die Schiene. Die wichtigsten Strecken, etwa am Pazifik, sollen reaktiviert werden. Dafür nimmt die Regierung viel Geld in die Hand. In den meisten lateinamerikanischen Ländern fristet das Schienennetz eher ein Schattendasein. Das war nicht immer so. Bei der industriellen Erschließung Ende des 19. Jahrhunderts spielte die Eisenbahn eine Schlüsselrolle und schuf die Infrastruktur für die bis heute herrschende extraktivistische Ausrichtung der lateinamerikanischen Länder. Zunächst englische Unternehmen, später US-amerikanische wie die United Fruit Company bauten zum Beispiel Bahnen in die zentralamerikanischen Kaffeeregionen. Praktischerweise gab es in einigen Gegenden üppige Wälder. Wozu die Lokomotiven mit Kohle oder Diesel betreiben? Das Holz gibt’s ja gratis. So schildert der salvadorianische Schriftsteller Roque Dalton die herrschende Denkweise zur Blütezeit des US-Imperialismus.
Auch heute sind die meist privat betriebenen Güterzüge, die Rohstoffe zu Häfen und anderen Umschlagplätzen bringen, umstritten. Politiker*innen argumentieren mit Fortschritt, Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum. Die angestammte Bevölkerung sieht wenig davon, muss sich viel mehr mit Landverlust, erhöhtem Unfallrisiko und Kontaminationen herumschlagen. Das bekannteste Beispiel dürfte der Tren Maya in Südmexiko sein, über den wir bereits berichtet haben. In Brasilien sorgt die Maranhão-Eisenbahn aktuell für Unmut bei der lokalen Bevölkerung.
Züge und Schienen waren und sind in der Geschichte des Aktivismus beliebte Orte für Sabotage, Blockaden oder symbolpolitische Aktionen: Die Edelweißpiraten im Rheinland ließen vor 80 Jahren zum Ende der Nazizeit einen Zug mit Material für die Wehrmacht entgleisen; rund um Lüchow-Dannenberg waren jahrzehntelang die Proteste gegen die Castorzüge mit radioaktivem Abfall legendär; Blockaden von Kohlezügen hat es zuletzt nicht nur im rheinischen Kohlerevier gegeben, sondern auch von Seiten der afrokolumbianischen Gemeinde in Tabaco, um gegen die Vertreibung durch den Kohlekonzern Glencore zu protestieren.
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts setzte der Niedergang des Schienennetzes in Lateinamerika ein. Wo die Schiene heute noch eine wichtige Rolle spielt, etwa in den Pendlerzügen rund um Buenos Aires, haben jahrzehntelang ausbleibende Investitionen, ähnlich wie in Deutschland, zum Verfall der Substanz geführt. Ausfälle und Unfälle sind die Folge. Ein besonders heftiger Unfall ereignete sich am 22. Februar 2012. Ein Regionalzug fuhr mit etwa 50 km/h in den Kopfbahnhof Once in Buenos Aires ein. Die Bremsen versagten und der Zug prallte mit ca. 25 km/h gegen die Prellböcke.
Die U-Bahnen in den lateinamerikanischen Metropolen bewegen vergleichsweise zuverlässig große Menschenmengen. In den überfüllten Waggons haben allerdings Frauen mit einem speziellen Problem zu kämpfen: Sexuelle Belästigungen in der Metro in Mexiko-Stadt führten schon 1970 dazu, dass extra Frauenzonen eingerichtet wurden. In erweiterter Form gibt es diese Waggons heute noch. Anfang November 2024 schlug in Berlin eine Grünen-Politikerin vor, diesem Beispiel zu folgen, um Frauen Fortbewegung ohne Belästigungen zu ermöglichen.
Züge und Schienen sind also nicht nur für Radikalökos, passionierte Ingenieur*innen oder Modellbahnfans spannend. Hier zeigen sich gesellschaftliche Entwicklungen und Missstände wie unter einem Brennglas.
Mit dieser Ausgabe verabschieden wir uns in die Winterpause. Die nächste ila erscheint Anfang Februar 2025. Wir wünschen unseren Leser*innen entspannte freie Tage und einen störungsfreien Übergang ins neue Jahr.
Dieser Beitrag ist das Editorial und eine Übernahme aus ila 481 Dez. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Weitzere Texte folgen in den nächsten Tagen.
Schreibe einen Kommentar