Über die Last, die eigene Existenz ständig rechtfertigen zu müssen

Das eigene Land aufgrund von Krieg oder Verfolgung verlassen und das Zuhause, die Familie, Freund*innen, ja ein ganzes Leben zurücklassen zu müssen, ist nicht leicht. Noch viel schwieriger ist es aber, wenn das Aufnahmeland, in dem Fall Deutschland, zunehmend deutlich macht, dass es einen auch nicht haben will, einem die Existenzberechtigung schlicht verweigert.

Für das „Festival Contre le Racisme“ hat unser Kollektiv einen Beitrag zum Mental Load von Migration präsentiert. In dessen Vorbereitung ist mir bewusstgeworden, wie schwer sich Deutschland gerade anfühlt.

Nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch aus persönlichen. Ich stand einem „Rechtfertigungsdrang“ gegenüber. Würden wir diesen Begriff im Spanischen erklären, ist es, als stündest du in einem Boxring, du richtest dich unter den Blicken der Zuschauer um dich herum wieder auf, deine Hände sind in Bandagen eingewickelt, dein Körper ist geschwächt von den Schlägen, die du bereits erhalten hast, deine Lungen spüren die Verengung deines Brustkorbs und ein unregelmäßiges Keuchen kommt aus deinem Mund. Dein Gegner hat dich gerade in die Ecke gedrängt, du spürst, wie die Seile deine Haut berühren… es gibt keinen Ausweg mehr… genauso musst du deine Entscheidungen hier rechtfertigen. „Du wolltest auswandern“, „du wolltest nach Deutschland gehen“, „du wolltest deine Familie verlassen“, „du wolltest ein sichereres Leben haben“, „du wolltest dich weiterbilden“, „du wolltest hier leben“. Ständig musst du deine Existenz in einem Umfeld rechtfertigen, das nicht das deine ist, in einer Sprache, die nicht die deine ist. Ich kann nicht gut übersetzen, aber Gefühle und Eindrücke sollten nicht übersetzt, sondern vermittelt werden.

In dem Moment, in dem diese Kolumne erscheint, wird der Koalitionsvertrag bereits beschlossen sein. Und wieder fühle ich mich, als stünde ich in diesem Boxring. Dieses Mal nicht allein, sondern mit allen Migrant*innen, dieses Mal aus politischen Gründen. Politische Bildung ist ein Privileg. Zu verstehen, wie die politischen Systeme im Herkunftsland funktionieren, können sich diejenigen erlauben, die Zeit für Politik haben, Zeit, über die Gesellschaft zu diskutieren, über Anlagen, Infrastruktur, philosophische Diskussionen über den Leviathan und die Macht des Staates, Einflüsse und wer der Sohn/Neffe/Freund von wem ist. Und wenn wir dazu noch den „Ring“, die Migration, hinzufügen, dann ist das Verständnis der Politik des Migrationslandes eine noch exklusivere Angelegenheit. Eine Frage des Privilegs.

Und wie sähe deutsche Politik als Boxkampf aus? Der Koalitionsvertrag wäre ein Grund, in den nächsten Jahren zu kämpfen, nachdem sich die Parteien mit den meisten Stimmen nach den letzten Wahlen am 23. Februar 2025 strategisch zusammengefunden haben. Das sind die Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD. Der Titel für ihre Legislaturperiode: „Verantwortung für Deutschland“. Migration war eins der zentralen Wahlkampfthemen, das von öffentlich-rechtlichen Medien und von verschiedenen Parteien beansprucht wurde, allen voran von der AfD. In Punkt 3 des Koalitionsvertrages „Sicheres Zusammenleben, Migration und Integration“ soll „das Ziel der ‘Begrenzung’ der Migration zusätzlich zur ‘Steuerung’“ wiederaufgenommen werden.

Wenn wir im Ring stehen, kennen wir das Ziel unseres Gegners: Eine Figur ohne Körper, repräsentiert durch Polizist*innen, Einwanderungsbeamt*innen und die Bezahlkarte.
Bundesweite Aufnahmeprogramme sollen abgeschafft, der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt, die von der Ampelregierung eingeführte „Turboeinbürgerung“ nach drei Jahren ebenfalls abgeschafft und nur noch für Ehegatt*innen von Deutschen erlaubt werden. Alarmierend sind auch die vorgeschlagenen Strategien zur Migrationskontrolle an den Grenzen, wie die Verpflichtung der Herkunftsstaaten zur Kooperation bei Abschiebungen, die klare Absicht, Abschiebungen zu verstärken und zu beschleunigen, und die Liste der sicheren Länder zu erweitern. Letzteres steht im Einklang mit der EU-Politik, die am 16. April eine Liste mit sieben sicheren Herkunftsländern vorgeschlagen hat, darunter Kolumbien. Das könnte bedeuten, dass Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern vermehrt abgelehnt werden.

Selbst wenn der Ring kleiner wird, selbst wenn der Gegner bereit ist, uns ins Ohr zu beißen … Migration ist kein Verbrechen, Migration ist ein Recht. Um zu verstehen, wie diese Migrationspolitik in der Kolonialisierung verwurzelt ist, empfehle ich Tendayi Achiumes „Migration as Decolonization“.

Diese Kolumne wäre nicht meine, wenn ich sie nicht nutzen würde, um meine Träume als Vallenato-Sängerin auszudrücken und eine Widmung, eine Blume an Kasia Wlaszczyk, Cooper Longbottom und Sara Millerey zu richten.

Übersetzung: Inga Triebel. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 485 Mai 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Links wurden nachträglich eingefügt.

Über „la piña“, Kollektiv Borregas Moradas / Informationsstelle Lateinamerika:

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