Gut und schlecht zugleich: Wenn ein Verfassungsgericht Recht und Gesetz durchsetzen muss
I.
Auch im politischen Betrieb gibt es Moden. Nicht nur was Themen und Forderungen, auch was Begründungen angeht. Zur Zeit kann man bei uns in Deutschland beobachten, wie alle, die ihre Interessen durchsetzen wollen, den Abbau von Bürokratie und Verwaltungsaufwand fordern. Darauf kann man sich schnell einigen, wenn man nicht genau hinschaut.
Schaut man auch nur ein bisschen genauer hin, stellt man in sehr vielen Fällen fest, dass es gar nicht darum geht, unnötige Verfahren abzuschaffen, auf überzogene Kontrolle und Nachweise zu verzichten. Vor allem den Vertretern aus der Wirtschaft geht es schlicht darum, dass sie keine oder weniger Verpflichtungen haben wollen. Die Folgen ihres wirtschaftlichen Handelns sollen andere tragen: Beschäftigte, Menschen in anderen Ländern, künftige Generationen oder die natürlichen Lebensgrundlagen. Sie wollen Freiheit ohne Verantwortung, obwohl sie in ihren Sonntagsreden immer betonen, beides gehöre zusammen. Da sind aber offenbar immer andere gemeint, zum Beispiel Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Bei der Einhaltung von Gesetzen und anderen Regeln im Arbeitsschutz und im Umweltschutz sollen Unternehmen einen Vertrauensvorschuss bekommen. Sie werden sich schon an Recht und Gesetz halten, Missbrauch gebe es in diesen Kreisen nicht, so wird behauptet.
Bei der Einhaltung von Gesetzen und anderen Regeln für die Inanspruchnahme von „Bürgergeld“, Wohngeld oder einer „Pflegestufe“ soll ein Misstrauens-Vorschuss gelten, weil Missbrauch in diesen Kreisen gang und gäbe ist, so wird behauptet.
II.
Die Haltung „Freiheit ohne Verantwortung“ breitet sich auch bei unseren französischen Nachbarn aus. Ein in mehr als einer Hinsicht besonderes Beispiel dafür ist das
„Loi Duplomb“, benannt nach einem konservativen Abgeordneten, der das Gesetz in die Nationalversammlung eingebracht hat. Der aktuellen Mode entsprechend hatte es die Überschrift „Gesetzesvorschlag mit dem Ziel, die Beschränkungen des Berufs des Landwirts abzuschaffen“.
Mit dem Gesetz sollen u.a. Pestizide der Familie der Neonicotinoide, die zu den Nervengiften gehören und in Frankreich seit 2020 verboten sind, wieder zugelassen werden. Betriebe der Massen-Tierhaltung sollen leichter vergrössert werden können. Die bisher aus guten Gründen geltende strikte Trennung zwischen landwirtschaftlicher Beratung und dem Verkauf von „Pflanzenschutzmitteln“ wird aufgehoben.
Die Nationalversammlung hat das Gesetz am 8. Juli 2025 mit 316 Stimmen aus den Parteien von Staatspräsident Macron gemeinsam mit den Konservativen und dem rechtsextremen „Rassemblement National“ beschlossen. Die linken Parteien einschliesslich der Grünen haben gegen das Gesetz gestimmt.
Der konservative Berichterstatter zum Gesetzentwurf Julien Dive begründete und rechtfertigte den Text so: „Die Landwirte sehen sich einer Anhäufung von Verpflichtungen gegenüber und von Entscheidungen, die oft aus der Ferne getroffen werden. Der Text soll eine Antwort auf diese Blockade sein.“
Für Sozialisten, „Linke“, Grüne und Kommunisten stellte Delphine Batho, die 2013 kurze Zeit Umweltministerin war, fest: „Das ist die Rückkehr des Gifts der Neonicotinoide, die Insekten und Babies im Mutterleib töten.“ Das Gesetz fördere auch die industrialisierte Landwirtschaft, „die Massentierhaltung mit der Folge gesundheitlicher Risiken und der Verbreitung von Algen.“
III.
Innerhalb weniger Tage nach Verabschiedung des Gesetzes haben mehr als zwei Millionen Menschen in Frankreich mit einer Petition gegen den Beschluss protestiert und die Nationalversammlung aufgefordert, das Gesetz erneut zu beraten. Nach dem französischen Petitionsrecht können Petitionen mit mehr als 500.000 Unterschriften zu einer erneuten parlamentarischen Debatte führen. Die Präsidentin der Nationalversammlung hat eine solche Debatte für September 2025 angekündigt.
Auf Antrag der Gegner des Gesetzes hat der „Conseil constitutionnel“, das französische Verfassungsgericht, das Gesetz geprüft und das zentrale Element, die Wiederzulassung der für Mensch, Natur und Umwelt besonders gefährlichen Neonicotinoide mit Entscheidung vom 7. August 2025 für verfassungswidrig erklärt.
Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass ein Verfassungsgericht die Zulassung eines bestimmten Pflanzenschutzmittels für unvereinbar mit der Verfassung erklärt.
Das Verfassungsgericht stützt seine Entscheidung auf die „Umwelt-Charta“, die unter dem konservativen Präsidenten Jacques Chirac 2005 Teil der französischen Verfassung wurde.
In einer Presseerklärung vom 7. August schreibt das Verfassungsgericht dazu:
„Die Umwelt-Charta hat Verfassungsrang. Das Verfassungsgericht urteilt von Anfang an, dass die Gesamtheit der Rechte und Pflichten, die sie enthält, verbindlich für die politisch Verantwortlichen aller staatlichen Ebenen und für die Verwaltungen ist.
Aus dieser Charta ergibt sich nicht zuletzt, dass der Gesetzgeber, wenn er Massnahmen ergreift, die geeignet sind schwerwiegend und dauerhaft eine ausgewogene und für die Gesundheit unbedenkliche Umwelt zu beeinträchtigen, darauf achten muss, dass Entscheidungen als Antwort auf heutige Bedürfnisse nicht die Fähigkeit künftiger Generationen beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihnen im Hinblick darauf Handlungsfreiheit zu sichern. (Art. 1 der Charta). Er muss die Verpflichtung berücksichtigen, zur Erhaltung und Verbesserung der Umwelt beizutragen (Art. 2) und er muss eine nachhaltige Entwicklung fördern. Zu diesem Zweck hat er Schutz und Erschliessung der Umwelt, Wirtschaftsentwicklung und sozialen Fortschritt miteinander in Einklang zu bringen….
Unter Anwendung dieser Grundsätze erklärt das Verfassungsgericht die Regelungen von Artikel 2 des Gesetzes für verfassungswidrig, die es erlaubten, per Verordnung das Verbot, Pflanzenschutzmittel zu verwenden, die Neonicotinoide oder andere vergleichbare Substanzen enthalten und entsprechend behandeltes Saatgut, ausser Kraft zu setzen.
Nach geltendem Recht ist die Verwendung solcher Produkte durch Artikel L. 253 6 des Gesetzes über die ländliche Entwicklung und die Fischerei verboten.“
Das Verfassungsgericht verweist auf eine frühere Entscheidung vom 10. Dezember 2020, in dem es festgestellt hatte, „dass Pflanzenschutzmittel, die Neonicotinoide enthalten, Auswirkungen auf die Biodiversität haben, vor allem für bestäubende Insekten und Vögel, dazu Folgen für die Qualität von Wasser und Böden und Risiken für die menschliche Gesundheit hervorrufen.“
Da die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, die Neonicotinoide enthalten, durch das von der Nationalversammlung beschlossene Gesetz sachlich, räumlich und zeitlich unbegrenzt gelten sollte, hat das Verfassungsgericht festgestellt, dass die vorgesehene Regelung seine „aus der Umwelt-Charta abgeleitete Rechtssprechung missachtet.“
IV.
Die Gefahren, die von Neonicotinoiden ausgehen, sind seit langem durch Studien gut belegt. Professor Randolf Menzel, viele Jahrzehnte Chef des Neurobiologischen Instituts an der Freien Universität Berlin und Mitglied vieler wissenschaftlicher Akademien, u.a. der „Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften“, hat dazu in einem Beitrag vom 3. März 2020 festgestellt:
Neonicotinoide „gehören zur Klasse der Nervengifte und wirken über einen bestimmten Rezeptor im Gehirn der Insekten und anderer Nicht-Wirbeltiere. Als Insektizide eignen sie sich auch deshalb, weil sie für Menschen und andere Säugetiere kaum unmittelbar toxisch sind, während sie auf die Zielinsekten schon bei sehr geringer Dosis tödlich wirken.
Allerdings unterscheiden Insektizide nicht zwischen vermeintlichen Schädlingen und Nützlingen. Sie schädigen oder töten auch viele andere Nicht-Wirbeltiere wie etwa den Regenwurm und andere im Boden lebende Tiere, die im Wasser lebenden Planktonorganismen und Insektenlarven und nicht zuletzt bestäubende Insekten wie Bienen und Schmetterlinge.“
Im Gegensatz zu Bauern-Funktionären nicht nur in Frankreich, die behaupten, ohne Neonicotinoide gebe es keine leistungsfähige Landwirtschaft, stellt Menzel fest:
„Die Belastung durch Neonicotinoide zu reduzieren oder ganz abzustellen, gehört im Vergleich zu den eher leicht zu erreichenden Zielen, denn die Schäden sind so offensichtlich und sinnvolle Alternativen leicht anzuwenden. In einer Reihe von Studien wurde nachgewiesen, dass ein gezielter und stark reduzierter Einsatz von Pestiziden weder zu höheren Kosten noch zu geringeren Erträgen führt. Mitunter ist sogar der Einsatz von Neonicotinoiden kostenintensiver als eine integrierte Schädlingsbekämpfung, bei der auf mehrjährige Fruchtfolge, kleinere Felder ohne Monokultur, Förderung von Fressfeinden (Vögel, Insekten) oder auch robustere Pflanzenarten gesetzt wird.“
V.
Auch in Deutschland stehen wir vor der Situation, dass sich vieles in der Umweltpolitik im Rückwärtsgang bewegt. Wirksame Klimapolitik wird unter „ferner liefen“ einsortiert. Die Bundeswirtschaftsministerin will Strom aus Sonne und Wind bremsen, obwohl (oder weil?) dadurch die Kilowattstunde immer billiger herzustellen ist. Statt ein umfassendes Mobilitätskonzept zu entwickeln soll der „Verbrenner“ in die Nachspielzeit gehen, obwohl das Spiel klar entschieden ist.
Politisch Verantwortliche handeln wider besseres Wissen oder jedenfalls gegen das, was sie wissen könnten. Die kurzfristigen Interessen einzelner Branchen am Status quo werden stärker gewichtet als die mittel-und langfristigen Chancen durch rechtzeitige Veränderungen.
Der Sozialstaat wird als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung dargestellt, obwohl die Bundesrepublik Deutschland nach unserem Grundgesetz keine liberale Demokratie ist, auch keine marktkonforme Demokratie, sondern ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat.
Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen wird als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung dargestellt, obwohl die bisherige Art des Wirtschaftens, vom Raubtierkapitalismus bis zum Staatskapitalismus, dazu führt, die Voraussetzungen für erfolgreiches Wirtschaften und ein gutes Leben für alle systematisch zu zerstören.
„Fridays for future“ hat sich vor wenigen Jahren auf die Fahnen geschrieben: „Follow the science“. Das war und ist ein Irrtum. Zum einen gibt es nicht nur eine Wissenschaft, sondern viele wissenschaftliche Disziplinen mit unterschiedlichem Blick auf die Welt und das Leben in der Welt. Zum anderen können wissenschaftliche Erkenntnisse und Einsichten politisches Handeln nicht ersetzen.
Weder die Höhe des Spitzensteuersatzes noch der Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaftsweise lassen sich wissenschaftlich objektiv feststellen. Da geht es um politische Entscheidungen, die unterschiedliche Interessen berücksichtigen, die Vorteile und Nachteile verschiedener Wege abwägen und sich darum kümmern, dass die notwendigen Antworten auf ökologische Fragen nicht die soziale Frage verschärft stellen.
Es ist kein gutes Zeichen, wenn in Frankreich, aber auch bei uns in Deutschland und in anderen Ländern oberste Gerichte dafür sorgen müssen, dass politisch Verantwortliche sich an die Gesetze halten, die sie selber beschlossen haben.
Das Bundesverfassungsgericht musste das vor einigen Jahren tun als es eine Untergrenze für die Leistungen der Grundsicherung bzw. des „Bürgergelds“ definiert hat.
Das französische Verfassungsgericht hat das vor wenigen Tagen getan mit seiner Entscheidung gegen die Wiederzulassung der besonders gefährlichen Neonicotinoide als „Pflanzenschutzmittel“.
In Deutschland setzen viele auf das Bundesverfassungsgericht, damit die Bundesregierung ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen nachkommt.
Die Demokratie schützen und stärken, heisst vor allem anderen, dass die politisch Verantwortlichen ihrer Verantwortung nachkommen. Das ist durch keine Entscheidung eines Verfassungsgerichts zu ersetzen und sei sie noch so richtig und wichtig.
Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz. Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Einige Links wurden nachträglich eingesetzt.
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