Die SPD – wird das noch was?

Grossvater erzählt. Aber mich hat es halt geprägt, wie meine Grosseltern der Krieg. Ich wuchs im sichersten SPD-Wahlkreis Deutschlands auf. Peter Reuschenbach holte in Essen-Nord 69,2%, gleichauf mit Günter Schluckebier in Duisburg-Nord. Bei uns in Essen-Karnap waren es über 75%. SPD-Kanalarbeiter allesamt, d.h. die marginalisierte CDU (unter 20%) war linke Opposition, nicht rechte. FDP gabs nicht (das wurde dann ich als Jungdemokrat am 1. April 1973).

Alles war Gewohnheit. Nichts davon sollte geändert werden. Alles hatte sich bewährt. Bis dann im Ruhrgebiet die Pütts und die Stahlwerke einer nach dem andern dichtgemacht wurden. Die Alten wurden Frührentner, die Jungen gingen erst studieren, und wanderten dann aus – oder umgekehrt. Sehr lange war das Wohnen günstig, mangels Nachfrage. Aber das ist jetzt auch vorbei.

Gladbeck-Brauck liegt direkt neben Essen-Karnap. Die Stadtgrenze ist unsichtbar. Ich überquerte sie täglich 2-4 mal mit dem Fahrrad – die Grenze zwischen Rheinland und Westfalen. Ich kenne sie von Kindheit an.

In Gladbeck-Brauck war es bei der Landtagswahl letzten Sonntag jetzt so. Die SPD erreichte noch 37,4% der wählenden Gladbecker*innen, weniger als 10.000 der über 50.000 Wahlberechtigten. Der Sohn des SPD-OB sass 1971 in der Klasse direkt hinter mir. Er blieb direkt wieder hängen. Sein Papa wurde schwerer Korruption beschuldigt und starb, mglw. daran, im selben Jahr. 1969 hatte er noch 51,2% geholt.

Noch 2012 holte die SPD in Gladbeck knapp 16.000 Stimmen, bei den Landtagswahlen 2005 und 2010 waren es sogar über 17.000. Seitdem also halbiert. Aus Braucker Wahllokalen, ihrer einstigen Hochburg – ich bin seinerzeit dort zum Kindergarten gegangen – werden als Wahlbeteiligungen gemeldet: 23,5, 22.7, 18,9, 17,6. Dä!

Warum hätten sie hingehen sollen, die Braucker*innen? Haben Sie eine Idee? Ich habe nur eine Ahnung, warum sie es nicht getan haben.

Lesen Sie – nur mal probeweise – hier, welche Zukunftsvorstellungen eine heutige SPD-Wahlsiegerin so hat. Ihr letzter Wahlsieger, ein ehemaliger Hamburger Bürgermeister, ist prompt Bundeskanzler geworden. Gut, das Saarland ist weniger als halb so gross. Wird das SPD-Karrieren bremsen? Wer immer Frau Rehlinger diesen Jargon aufgeschrieben hat – deswegen wurde sie garantiert nicht gewählt. In Brauck sind die meisten Kneipen längst mit Brettern zugenagelt. Wenn sie es nicht wären, bräuchte sie da gar nicht erst reinkommen.

Thomas Kuschaty könnte das aus seiner Jugend heraus ahnen. Sein Vater sei Eisenbahner gewesen, heisst es. Die galten damals nicht als Proletarier, sondern “was Besseres”. Sie waren Beamte! Und bekamen Dienstwohnungen. Was für ein Luxus im Vergleich zu heute. Warum hat Kutschaty nicht daran angeknüpft?

Die Wohnungsnot hat längst ganz NRW erfasst. Die wildesten Verkehrsformen des real existierenden Kapitalismus machen sich hier breit, erfassen den Alltag fast aller Bürger*innen, und versetzen diejenigen ohne Immobilienbesitz in alltägliche (!) Angst und Schrecken. Da ist es mit unseriösen Versprechen von soundsoviel neuen Wohnungen nicht getan. Es gibt aktive und geplagte Mietervereine in den NRW-Grossstädten. Wo war die Kutschaty-Initiative für besseren Mieter*innen*schutz?

Das Wahlergebnis hatte einen 1969er-Moment. Die CDU ist stärkste Fraktion, aber weit von der Mehrheit entfernt. Kutschaty hat seinen Willy Brandt erkennbar vergessen. Der machte 1969 der geschwächten FDP ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte. Wo waren die Spindoktor*inn*en der SPD? Oder kann sie sich keine mehr leisten? Sie hätten es schon vor dem Wahlsonntag ausarbeiten können. Warum haben sie nicht mit der designierten DGB-Vorsitzenden gesprochen, für einen möglichen gemeinsamen inhaltlichen und strategischen Vorstoss? Berührungsangst? Alte innerparteiliche Feindschaften? Kutschaty hätte es wie einen medienattraktiven Überraschungscoup vor den TV-Kameras ausbreiten können: ein Angebot, das Grüne und FDP nicht ablehnen können: Kohleausstieg und Subventionsausstieg mit sozialen Sicherheitsgarantien beschleunigen, Verkehrswende beschleunigen (ein “NRW-Takt” z.B., der auch ländliche Räume und wiederzubelebende Bahnstrecken erfasst – und neue Arbeitsplätze schafft), Integrations- und Innovationsoffensive für ein grünes Ruhrgebiet, gemeinsam zu entwickeln und zu inszenieren (!) mit den vielen dortigen Hochschulen; Beendigung von Massentierhaltung und -schlachtung, stattdessen Förderung regionalisierter Produktion und Märkte) – NRW, das schönste, reichste, stärkste Bundesland von allen. Es gibt genug ideenreiche Agenturen in NRW. Und Bewegungen! Warum hält die SPD sich von denen fern?

Nichts davon ist ihm und seinen Genoss*inn*en eingefallen. Oder es blieb unbemerkt. Warum wohl?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net