Die ohnehin schon sehr unstabile Welt könnte am Wochenende noch unsicherer werden. Am Samstag (2. Februar) will die Trump-Administration in Washington den bereits seit Oktober letzten Jahres angedrohten Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag vollziehen. In diesem militärisch und politisch wichtigsten Abkommen zur Kontrolle und Abrüstung atomarer Waffen hatten die USA und die Sowjetunion 1987 die vollständige Verschrottung und das Verbot landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern vereinbart. Die Trump-Administration rechtfertigt ihren angedrohten Ausstieg mit der Behauptung, Russland habe mit der Entwicklung einer neuen Mittelstreckenrakete gegen den Vertrag verstoßen. Die Regierung Putin bestreitet den Verstoß.
Anfang Dezember hatten die USA mit Unterstützung ihrer NATO-Verbündeten Moskau ultimativ aufgefordert, die angebliche Vertragsverletzung bis spätestens 2. Februar durch Vernichtung der inkriminierten Raketen zu beenden. Ende letzter Woche geführte Gespräche zwischen beiden Seiten im NATO-Russland-Rat erbrachten keine Annäherung. Maßnahmen der Regierung Putin, die den Ausstieg der USA aus dem INF-Abkommen noch verhindern könnten, sind bis zum morgen nicht mehr zu erwarten.
Das INF-Abkommen wurde am 7. Dezember 1987 durch die Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnet. Vorausgegangen waren jahrelange Protesten der Friedensbewegung zunächst in Westeuropa und den USA und dann auch in der DDR gegen „Geist, Logik und Politik“ der atomaren Abschreckung und Aufrüstung. Der auch als „doppelte Nulllösung“ bezeichnete INF-Vertrag wurde bis zum 31. Mai 1991 von beiden Seiten fristgemäß umgesetzt. Bis dahin hatten die USA 844 Raketen verschrottet, Die Sowjetunion vernichtete 1.846 Raketen,

Geschaffenes Vertrauen wieder zerstört

Zur Überwachung des INF-Abkommens und seiner Umsetzung räumten sich Washington und Moskau gegenseitig weitreichende Inspektions- und Überprüfungssrechte ein. Das mit dem INF-Abkommen geschaffene Vertrauen zwischen Washington und Moskau ermöglichte nach Ende des Kalten Kriegs auch neue Verträge zur Reduzierung der strategischen Atomwaffenarsenale (START) sowie einseitige Abrüstungsmaßnahmen: beide Seiten zogen Tausende atomarer Artilleriegranaten und Kurzstreckenraketen mit Reichweiten bis zu 500 Kilometern aus West- und Osteuropa ab.
Die USA und ihre NATO-Verbündeten behaupten, Rußland verstosse durch die Entwicklung einer neuen Mittelstreckenrakete vom Typ SS-C8 (NATO-Bezeichnung: 9M729) mit der angeblichen Reichweite von 2.600 Kilometern gegen den INF-Vertrag. Nach Darstellung Moskaus hat das neue Raketensystem jedoch nur eine Reichweite von maximal 480 Kilometern und falle daher nicht unter das INF-Verbot.
Die Regierung Putin wirft den USA und der NATO ihreseits vor, mit der Stationierung von “Raketenabwehrsystemen“ in Polen und Rumänien – die nach offizieller Darstellung ausschließlich gegen Bedrohungen aus dem Nahen Osten, nicht aber gegen Rußland gerichtet sind, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen. Denn die Startrampen für die Abwehrraketen seien auch für den Abschuß von Mittelstreckenraketen geeignet. Zudem verweist Moskau darauf, daß der US-Kongress auf Antrag der Trump-Regierung bereits für das Haushaltsjahr 2018 eine erste Tranche von 500 Millionen US-Dollar für die Entwicklung einer neuen Mittelstreckenrakete bewilligt hat.

Europäer haben Trumps Eskalationsdynamik unterstützt

Was an den gegenseitigen Vorwürfen aus Washington und Moskau dran ist, läßt sich bislang nicht seriös beantworten. Zu diesem Zweck müßten die Inspektions-und Überprüfungsmechanismen wieder in Kraft gesetzt werden, die einst im INF-Vertrag vereinbart wurden. Dazu zeigen sich bislang aber weder Washington noch Moskau bereit. Doch um beide Seiten zu dieser wichtigen vertrauensbildenden Maßnahme zu bewegen, bleibt immer noch mindestens ein halbes Jahr Zeit und Gelegenheit. Denn selbst wenn Präsident Trump am Samstag den Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag verkündet, würde dieser Ausstieg laut den Vertragsbestimmungen erst nach sechs Monaten endgültig. Eine Aussicht auf die Wiederaufnahme der Inspektions- und Überprüfungsmechanismen des INF-Vertrages durch die USA und Rußlands besteht allerdings nur, wenn wenn Deutschland, Frankreich, Großbritannien und andere europäische NATO-Staaten sich dafür sowohl in Washington wie in Moskau einsetzen würden. Mit ihrer Unterstützung des Ultimatums der Trump-Administration an Moskau beim NATO-Gipfel Anfang Dezember haben die Regierungen der europäischen Mitgliedsstaaten der Allianz jedoch eine negative Eskalationdynamik unterstützt. Bleiben sie dabei, ist nicht nur das Ende des INF-Vertrages besiegelt. Dann werden sich Washington und Moskau auch kaum noch auf ein Nachfolgeabkommen für den 2021 auslaufenden START-Vertrag verständigen. Und in Europa droht dann ein Dejavu der 70er und 80er Jahre: ein neuer NATO-Doppelbeschluß wie weiland im Dezember 1979 und ein neues Wettrüsten mit atomaren Kurz-und Mittelstrecken sowie mit den von der Trump-Administration Anfang 2018 angekündigten „Mininukes“, die die Schwelle zum tatsächlichen Einsatz atomarer Waffen laut dem Pentagon angeblich anheben sollen, tatsächlich aber absenken würden.

Dieser Beitrag erscheint auch in der Wochenzeitung Freitag, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Über Andreas Zumach:

Andreas Zumach ist freier Journalist, Buchautor, Vortragsreferent und Moderator, Berlin. Von 1988- 2020 UNO- Korrespondent in Genf, für "die tageszeitung" (taz) in Berlin sowie für weitere Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten. Seine Beiträge sind in der Regel Übernahmen von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.