Möglich, dass die Menschheit in der Klimakrise die Kontrolle schon verloren hat. Wir wissen es nicht, zum Glück. Bei der Coronapandemie sieht es noch unentschieden aus. Manche Regierungen, die die Globalisierung immer noch nicht verstanden haben, glauben sie national mit Impffortschritten zurück zu erlangen. Wenn sie sich international weiterhin so verantwortungslos verhalten, wofür öffentlich alles spricht, wird es ein böses Erwachen geben. Kluge Krankenhausärzt*inn*e*n wie Cihan Çelik in Darmstadt bereiten sich schon auf das nächste Desaster vor (FAS-Interview).
Die Kontrollverlustparanoia der begüterten Gesellschaften und Länder grassiert schon lange. Gestern strahlte die ARD-Nische One so lautlos wie möglich die britische Produktion The Uncivil War von 2019 aus (Video 1:30, nur einen Monat bis 3.5. verfügbar). Der Film war so gut, dass ich letzte Nacht sogar einen darauf bezogenen Alptraum hatte. Er verarbeitet fiktional die Geschichte des Brexit, weit humorfreier als House Of Cards, dramaturgisch verdichtet auf die “Helden”-Figur Dominic Cummings, politisch-analytisch aber glänzend verarbeitet.
Es handelt sich um die Privatisierung des Politischen zugunsten undurchsichtiger, aber ökonomisch gewaltiger Kapitalinteressen. Es gibt selbstverständlich Widersprüche in der herrschenden Klasse. Weil die politische Klasse seit Jahrzehnten intellektuell geschwächt und ausgehungert wurde, setzen sich im Grosskapital diejenigen durch, die am skrupellosesten sind. Der Campaigner Cummings, dargestellt von Benedict Cumberbatch, agiert wie ein Jürgen Klopp (oder wenn Sie lieber einen “unsympathischen” wollen: José Mourinho): er will der Sieger sein, und muss alle wegbeissen, die das behindern. Er durchschaut das Spiel, hat aber auch keine Idee, wie “das Gute” siegen kann. Ironie der wahren Geschichte: die skrupelloseste Fraktion des Kapitals ist gleichzeitig die, die das British Empire endgültig zugrunde richtet. Antiimperialismus ist was anderes – aber “erfolgreicher” sind die Imperialisten selbst.
Topaktuell zeigt der Film, wie ökonomische und Daten-Macht eine Verbindung eingehen, die seit dem Cambridge-Analytica-Skandal der Öffentlichkeit bekannt ist. Sofern sie sich dafür interessiert. Der Film lässt, um nicht zu kompliziert zu werden, die “traditionelle” alte Medienmacht von Rupert Murdoch weg, die mit den dargestellten Ekel-Mächtigen eine politisch enge Verbindung pflegte und pflegt. Wer die Demokratie, wie wir sie kennen und in Teilen schätzen gelernt haben, retten will, muss die Datenmacht (und auch die Medienmacht!) von der Kapitalmacht trennen. Letztere wird sich dagegen mit Händen, Füssen und sehr viel Kapital wehren. Kennen Sie Parteien, die bereit sind, diese Aufgabe zu übernehmen?
Dass The Uncivil War von Channel 4 produziert und von der BBC international vertrieben wird, dürfte ein Grund sein, warum Boris Johnson nicht ruhen wird, bis er diese öffentlichen Medienorganisationen zur Strecke gebracht hat. Vergleichbare Produktionsstrukturen, die sich in ähnlicher Qualität an Gegenwartsstoffe hierzulande heranwagen, sind mir nicht bekannt. Sie fürchten “vorsorgend” das Schicksal, das sie für die BBC für vorgezeichnet halten. So kann mann sich auch überflüssig machen. Die deutsche Methode.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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