Wird es nicht immer schlimmer mit der Gewaltkriminalität?
Falsch, wie kommen Sie darauf? Die Gewaltkriminalität in Deutschland hat in den letzten 10 Jahren um ein Siebtel abgenommen, von ca. 210.000 auf 180.000. Von 2014 auf 2015 ist die Zahl ungefähr gleichgeblieben (+0,2%). Also: wie kommen Sie darauf?
Man sieht doch so viel. Jetzt werden Gewalttaten nicht nur im Tatort, sondern sogar schon in der Tagesschau gezeigt.
Richtig! Das ist es, was sich geändert hat: wir bekommen die Gewalttaten jetzt live gesendet.

Das ist der “Gewinn” der Kameraüberwachung: die Gewaltmedien bekommen mehr Content/Bilder geliefert. Den Sicherheitsapparaten wird die PR-Arbeit erleichtert. Unser Voyeurismus, unser wohliger Entsetzensschauer zuhause im Wohn-/TV-Zimmer über die schlimme Welt da draussen wird künstlich ernährt und am Leben gehalten. So findet der Lobbyismus der Überwachungsindustrien schneller zum Renditeziel.

Kameras ohne menschlichen Begleitschutz schaffen 0, in Worten: NULL! Sicherheit. Im Gegenteil: hormongetriebene, pubertierende und andere Gewalttäter befriedigen ihre Eitelkeit, werden effektiver “berühmt”, wenn sie wissen, dass sie gefilmt werden. Schliesslich wird heute alles zutodegefilmt und -fotografiert. Da ist es doch schon ein Reinfall, wenn man ein Verbrechen begeht, und keiner merkts. Aufmerksamkeit ist eine Währung, auch und gerade in der Kriminellenbranche. Da kommen Videodokumente in die Bewerbungsmappe für den nächsten Job.

Die Kameras sind auch für ihre technischen Betreiber wertvoll. Denn sie sammeln Datengold, die zukünftige Leitwährung der Weltwirtschaft. Und sie kosten fast nichts, im Gegensatz zu menschlicher Arbeit.
Schon heute bewegt sich das private Renditeinteresse in immer mehr Bereiche der öffentlichen Verwaltung. Da wird es auch ökonomische Verwertungsmöglichkeiten für die von privaten und öffentlichen Überwachungskameras gesammelten Datenmengen geben. Prekär beschäftigte Massen von intelligenten Nerds haben kein Problem damit, Algorithmen für eine reichhaltige Auswertung zu entwickeln. Auch der Finanzminister wird schnell entdecken, wie er mit dem Dealen unserer Daten schwarze Nullen erwirtschaften kann.

Nur Kameras, in deren unmittelbarer Nähe sich menschliche Kräfte befinden, können Sicherheit schaffen. Wenn in 2-3 Minuten Hilfe da sein kann, könnte ein Gewalttäter nachdenklich werden, ob das ein guter Ort für seine Untat ist. Damit geht der ökonomische Sinn der Kamera, nämlich Ausgaben für Sicherheitspersonal einzusparen, nur leider komplett verloren. Kameras mit echtem Sicherheitsgewinn sind also ökonomischer “Unsinn”. Wer würde die installieren?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net