von Ingo Arend
Heimat ist, wo mein Fetisch ist
Nach einer Rufmordkampagne gegen die Kuratorin wurde die Biennale von Çanakkale erstmal abgesagt. Jetzt läuft sie doch – in Niedersachsen.
Eingeschlagene Fenster, verwitterte Türen, von Schlingpflanzen überwucherte Balkone. Reysi Kamhis Holzkohlezeichnungen kommen ganz unscheinbar daher. Die Istanbuler Künstlerin hat die verlassenen Häuser des jüdischen Viertels von Çanakkale gezeichnet, einer westtürkischen Kleinstadt an den Dardanellen. Heute stehen sie leer, verfallen. Wer hat darin gewohnt? Wohin sind ihre Einwohner verschwunden? Was ist aus ihnen geworden?
Schwer zu sagen, welche Reaktionen Kamhis Arbeit in der Türkei hervorgerufen hätte. Mit religiösen Minderheiten geht der türkische Staat seit je mehr als robust um. Eigentlich hätte die Arbeit auf der „Homeland“ betitelten fünften Ausgabe der Biennale von Çanakkale gezeigt werden sollen. Die zweitgrößte der vier türkischen Kunst-Biennalen, 2006 gegründet, greift auf mythischem Gelände zwischen dem antiken Troja und dem Schauplatz der Schlacht von Gallipoli im 1. Weltkrieg immer wieder das Thema Krieg und Frieden auf.
Die Absage der Schau nach einer Rufmordkampagne eines örtlichen Abgeordneten von Präsident Erdoğans AK-Partei gegen die progressive Istanbuler Kuratorin Beral Madra, die die Schau seit einigen Jahren kuratiert, hatte im letzten Herbst international Aufsehen erregt. Zu groß war die Angst der Organisatoren vor Repressionen und davor, die beteiligten Künstler öffentlich zu kompromittieren.
Als Zeichen der Solidarität entschloss sich deswegen kurzerhand die Kunsthalle von Ça nakkales Partnerstadt Osnabrück, der torpedierten Biennale unter dem Titel „Çanakkale Art Walk“ ein Exil in Niedersachsen anzubieten. Und bat den jungen Istanbuler Kurator Christian Oxenius, sie für den anderen Kontext neu einzurichten.
„Friedensstadt“ Osnabrück als passender Ort
In der „Friedensstadt“ Osnabrück, Heimat von Erich Maria Remarque und Schauplatz der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens, ist die Schau am richtigen Platz. Bei Oxenius spielt das Thema Türkei zwar auch eine Rolle bei seinen zusätzlich ausgewählten Künstlern. Seine Arbeit „Die Diele“ hätte der Berliner Künstler Viron Erol Vert in Çanakkale vermutlich nicht zeigen können.
Die Gasmaske, der Helm, die Steinschleuder, die er da auf Regalen aufgebahrt hat, zeigen, wie die Werkzeuge des Widerstands heute in dem Land zum Alltagsgegenstand jeden Haushalts geworden sind. Vert hat sie aus wertvollem Walnussholz oder Bronze nachbilden lassen. Damit erhebt er sie in den Rang eines wertvollen Kulturguts.
Oxenius hat die Schau sacht ins Allgemeine geöffnet, womit deutlich wird, dass „Homeland“ kein speziell türkisches Problem ist. Die Fotografien der riesigen Bagger in deutschen Kohletagebaugebieten rufen die Zerstörung von Heimat auf. Die religiösen Schreine aus in den Boden eingelassenen Badewannen, die der Fotograf Veit Straatmann in Vorgärten in New England entdeckt hat, zeigen: Heimat ist, wo mein Fetisch ist.
Und die 18 Matratzen, mit denen Jeanno Gaussi den Eingang der ehemaligen Fabrikantenvilla Schlikker verbarrikadiert, ruft mit dem Streit um ein Berliner Flüchtlingsheim den Topos Verweigerte Heimat auf. Heute beherbergt Osnabrücks ehemaliges „Braunes Haus“, einst Sitz der NSDAP, das Kulturgeschichtliche Museum der Stadt.
Imposante Historien- und Naturkulisse
Wie belastend konservative Traditionen der oft nostalgisch beschworenen Heimat werden können, zeigte die Eröffnungsperformance von Stefan Tschernboc in der Gesellschaft für Zeitgenössische Kunst. Auf einem bespannten Keilrahmen stickte der 17 Jahre alte russischstämmige Künstler, der seit einiger Zeit in Osnabrück lebt, das Wort Педик! auf einen bunt bespannten Keilrahmen – ein russisches Slang-Wort für Homo. Angesichts der Deportation von Schwulen in tschetschenische Deportations-Camps war es kein unzulässiger Vergleich, wenn er sich gleich noch einen rosa Stern auf die dunkelblaue Trainingsjacke nähte.
In Çanakkale entfaltet die Schau ihre Strahlkraft durch die imposante Historien- und Naturkulisse. Auch in Osnabrück nutzt sie den Genius loci. Im Felix-Nussbaum-Museum reicht das 1939 entstandene Bild „Der Flüchtling“ des jüdischen Künstlers, der 1944/45 in Auschwitz umkam, um zur Gegenwart der globalen Migration aufzuschließen. Alles in allem ist aus der 40 Positionen großen Schau ein beziehungsreicher Parcours geworden, der über eine örtliche Ausstellung oder ein Solidaritätsprojekt hinausgeht. „Homeland“, in Oxenius’ Variante, hat selbst durchaus Biennale-Format.
Heimat, das zeigt die klug komponierte Schau, ist kein mythischer, sondern ein sozialer Ort. Einer, an dem man sich im Austausch positioniert. Was auf metaphorische Weise eine andere Ausstellung der Kunsthalle signalisiert, die mit dem Çanakkale Art Walk nichts zu tun hat.
In seiner Parallelschau demonstriert der Schweizer Künstler Felice Varini die Grundfrage der Malerei: wie sich eine dreidimensionale Situation in eine zweidimensionale Fläche übertragen lässt. Er trägt auf die vorhandene Architektur eines Platzes überall farbige Linien auf, die sich für die Betrachtenden nur an einer Stelle zu einem erkennbaren Ganzen fügen.
Wer versucht, sich auf dem Osnabrücker Domplatz vor seiner Arbeit „Vier blaue Kreise“ auf der Fassade der Marienkirche und den Häusern in der Straße so aufzustellen, dass sie ihm wie eine zweidimensionale Fläche aus vier überlappenden Kreisen erscheint, versteht, wie schwer das sein kann: die Suche nach dem richtigen Standort.
Noch bis 6. August in der Kunsthalle Osnabrück.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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