Gibt es in Schleswig-Holstein schon Oberleitungen? Als ich mir Sylt noch leisten konnte, endeten sie an der Hamburger Stadtgrenze. Heute, in der Immobilienblase kann sich kein normaler Mensch mehr Sylt leisten, aber viele müssen dort arbeiten, als Dienstleister*in für die Milliardäre und Multimillionäre (viele von letzteren aus Hamburg). Diese Dienstleister*innen müssen aus strukturschwachen, vom herrschenden Kapitalismus verlassenen Dörfern nach Sylt anreisen. Das geht nur über den “Hindenburgdamm“, mit der Bahn.
Die Bahn schafft das aber nicht. Mal muss die Strecke saniert werden, mal die Waggons, mal die Loks. Und sicher gibts, wie überall “Signalstörungen” und “Personen (oder Schafe?) im Gleis”, “Polizeieinsätze im Zug” usw., was wir alle kennen. In Schleswig-Holstein, und zwar fast im ganzen Bundesland (“Da kannst Du stundenlang fahrn, und triffs keinen”) haben sich diese Störungen in den letzten Jahren so massiv konzentriert – und ist in Richtung Sylt die Abhängigkeit der Menschen von der Bahn so gross – dass den dort wenig revolutionär gesinnten Menschen nun endlich die Hutschnur geplatzt ist: sie setzen sich zu hunderten auf die Gleise und teilen uns mit, dass sie die Nase voll haben.
Warum kriegen die Bahn und die dortigen Verkehrsverbünde nichts gebacken und geben in Medieninterviews nur leidvoll ihre Ratlosigkeit kund? Sicher nicht, weil es ihnen Spass macht.
Wer sich nur ein bisschen mit der Geschichte der Deutschen Bahn, und generell mit dem Vorhalten öffentlicher Infrastruktur in unserer Republik beschäftigt und beim Reisen durchs Land die Augen offenhält, der weiss: seit den 60er Jahren wird nur abgebaut und Kosten gesenkt. Bahnhöfe und Postämter waren bis dahin öffentliche Orte alltäglicher Begegnung. Dort waren Menschen anzutreffen, die auch undienstlich jederzeit Hilfe leisten oder organisieren konnten. Sie produzierten Sicherheit an Orten, wo heute Kameras aufgehängt und vergeblich nach Polizei gerufen wird. Man konnte Pakete aufgeben und abholen, die heute von LKW-Flotten hin und her transportiert werden, von prekarisierten und appgesteuerten Dienstbot*innen bis an Haustüren, hinter denen niemand zuhause ist.
Die Flächen und Immobilien, auf denen das einst abgewickelt wurde, werden heute von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) streng betriebswirtschaftlich “verwertet”, auf keinen Fall aber gemeinwohlorientiert instandgehalten oder gar modernisiert. Die Bahn hat eine Abteilung “DB Immobilien“, die ähnlich verfährt; bei ihr können Sie Bahnhofs-Überreste erwerben, aber als Immobilienhai auch wertvolle ehemalige Güterbahnhof-Grundstücke in City-Lagen (s. “Stuttgart 21”). Viele Menschen sehen ihre öffentlichen Gebäude verfallen und vergammeln, der Staat ist abgehauen, hat sie verlassen. Was sie wählen, ist bekannt.
Und jetzt “Jamaica”? Das Dogma der Schäubleschen “Schwarzen Null”, die genau diesen Infrastrukturverfall nach sich gezogen hat, wird bestimmt nicht abgeschwächt, sondern durch die FDP sicher verstärkt. Die Realos bei den Grünen sind Geschwister im Geiste, und haben widersprechende Positionen ihrer eigenen Partei schon vor Verhandlungsbeginn abgeräumt. Sie bestätigen so die schlimmsten Befürchtungen von Albrecht von Lucke, der in seiner Ratlosigkeit schon eine Minderheitsregierung empfiehlt, ein Rat, dem sicher niemand folgen wird. Auch Sascha Lobo schreibt vergeblich, obwohl nicht ganz: Spiegel-online wird ihn fair entlohnen.
Wir werden uns weiter quälen mit kaputten Brücken und maroden Schulen. Ist das etwa ein besseres “Erbe” an unsere Nachkommen, Gemeinwesen verfallen aber “schuldenfrei”? Auch die Bahninfrastruktur in NRW wird sich nur geringfügig verbessern. Wir bekommen in Beuel eine S13 nach Köln, mit verbessertem Lärmschutz an der vielbefahrenen Güterzugstrecke. Wir bekommen den RRX als verbesserten Regionalexpress, aber vermutlich nur einen stündlich bedienten Abzweig, analog zum heutigen RE5, also mglw. noch nicht einmal umsteigefrei ins Ruhrgebiet (wie der heutige RE1 von Aachen), sondern nur nach Duisburg.
Wenn uns das nicht genügt, müssen wir uns auch mal so wie im Norden auf die Gleise setzen, am besten gleich neben dem Dom. Die Engpässe in Köln und Dortmund werden absehbar kaum gemildert, in Köln ist neben dem Dom und über den Rhein schlicht kein Platz. Auf eine Trennung von Güter- und Personenzuggleisen können wir im Rheintal warten, bis wir tot sind. Das ist vielleicht eine Sache für unsere Enkel. Dafür müssten die aber anders wählen als wir. Wir selbst habens ja gerade verbockt.
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