Von Eduard Fritsch
Die Berichterstattung über die Maras in den hiesigen Medien

Auf der letzten Internationalen Tourismusbörse (ITB) in Berlin, die vom 7. bis zum 11. März 2018 stattfand, war auch El Salvador vertreten. María Luz Nóchez, Journalistin der salvadorianischen Internetzeitung „El Faro“, besuchte die ITB und den Stand ihres Landes. Ihr Kommentar: „Zwischen all den Vorzügen des Klimas, den vielfältigen Landschaften und dem guten Straßennetz tauchen die Worte Sicherheit, Gewalt und Pandillas (gleichbedeutend mit Maras, Gangs, Verbrecherbanden, d. Red.) an keiner Stelle auf. In der offiiellen Darstellung, mit der El Salvador als Tourismusziel angepriesen wird, gibt es keine Pandillas. War El Salvador früher für seinen Kaffee bekannt, so macht es heute Schlagzeilen mit den Leichen, die 60 Morde auf 100000 Einwohner*innen im letzten Jahr hinterließen. Heutzutage wäre es nicht übertrieben zu sagen, dass in diesem Land mehr Tote produziert werden als Kaffee.“

Fluchtpunkt LA: vorhandene Gangs inspirieren zu Neugründungen

Tatsächlich ist El Salvador in den letzten Jahren in den hiesigen Medien selten als Land beschrieben worden, das für Tourist*innen attraktiv ist, sondern als „das gefährlichste Land der Welt“, wie es in den Überschriften einer Reportage von Jan Christoph Wiechmann im „Stern“ vom 28. April 2016 und in einem Artikel von Toni Keppeler in der „Frankfurter Rundschau“ vom 15. Mai 2016 übereinstimmend genannt wurde. Dieser Tenor herrschte in der Berichterstattung der letzten Jahre vor. Sie enthalten allesamt dieselben Elemente: Entstehungsgeschichte, Dimension, Ursachen, Aktivitäten der Maras, Gegenmaßnahmen, Leben unter Mara-Kontrolle. Zur Entstehungsgeschichte der Maras in El Salvador wird regelmäßig auf Los Angeles verwiesen: Während des Krieges von 1980 bis 1992 flohen Tausende von Salvadorianer*innen in die Vereinigten Staaten, vor allem nach Los Angeles (dort leben rund 400 000 Salvadorianer*innen), wo sie auf bereits vorhandene Straßengangs von Chicanos und Chicanas und Afroamerikaner*innen trafen. Um sich gegen diese zu verteidigen, gründeten junge Flüchtlinge ihre eigenen Banden.

In einem Artikel von Philippe Revelle, der im März 2004 in der „Le Monde diplomatique“ und 2016 in überarbeiteter Form in der „Edition Le Monde diplomatique“ erschienen ist, wird die Entstehung der Mara „Barrio 18“ („M18“) und der „Mara Salvatrucha“ („MS13“) am detailliertesten beschrieben: „Damals war aber die Bande von der Eighteenth Street in diesem Viertel allmächtig. Ein paar junge mexikanische Einwanderer hatten sie Anfang der sechziger Jahre gegründet – und zwar aus Wut darüber, dass sie nicht in eine der ältesten Banden von Los Angeles, die ‚Clanton 14 Street Gang‘, aufgenommen wurden. Anfangs war das Revier der neuen pandilla, auch ein spanischer Ausdruck für Bande, nur ein paar Häuserblöcke klein. Es beschränkte sich eigentlich auf die Kreuzung von Rampart Street und Eighteenth Street. Doch bald dehnte sich ihr Einflssgebiet rasant aus. Der Krieg mit der Mara Salvatrucha von der Thirteenth Street – darum auch MS13 genannt – brach aus, als diese in das Gebiet der Achtzehner einzudringen begann.

Deportationen nach San Salvador stärken die Gangs – “Geschenk der USA”

Als der Drogenhandel in den 1980er-Jahren massiv zunahm, wurden diese Banden immer aktiver.“ Nach dem Ende des internen Krieges in El Salvador deportierten die Regierungen der Vereinigten Staaten ab 1992, verstärkt noch ab 1996, auf der Grundlage neuer Anti-Terrorgesetze Tausende von Salvadorianer*innen ohne Papiere, darunter viele Mareros und Mareras. Bis heute landet jede Woche ein Flugzeug aus Los Angeles oder Houston mit um die 200 Deportierten in San Salvador. Hinzu kommen die auf dem Landweg aus Mexiko deportierten indocumentados, Leute ohne Aufenthaltspapiere. Die Gangmitglieder unter ihnen genießen wegen ihrer Tattoos und der Legenden, die sich um ihr Leben in den Großstädten der USA ranken, in ihrem Herkunftsland, dessen Sprache sie oft gar nicht mehr beherrschen, ein hohes Ansehen.

Toni Keppeler beschreibt das in dem erwähnten Artikel so: „Ganz egal, was sie sich in den USA zuschulden hatten kommen lassen – ob Drogenhandel, Raub oder Mord –, ab dem internationalen Flughafen von San Salvador waren sie freie Menschen. Und sie waren allein, ohne Familie. Aber sie fanden schnell neue Freunde. In den Slums hatten sich Jugendliche, die kaum mehr als zwei chaotische Jahre Schule hinter sich gebracht und keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hatten, zu kleinkriminellen Gangs zusammengeschlossen. Auch sie nannten sich Maras, das Wort hatte früher die Bedeutung von ‚Freundeskreis‘. Sie waren viel harmloser als die Deportierten, aber sie lernten schnell. Es dauerte eine Weile, bis sich die beiden Mara-Verbände aus den USA als Quasimonopolisten durchsetzten. Nach Buenos Aires (einem Stadtteil in Mejicanos, neben San Salvador und Soyapango der drittgrößten Stadt im Ballungsgebiet von Groß-San Salvador, d. Red.) kam die MS in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre. Dort gab es vorher eine kleine lokale Mara und dazu eine Bande von Drogenhändlern, die den Markt von Mejicanos kontrollierte. Die lokale Mara wurde von der MS langsam aufgerieben, mit den Drogenhändlern gab es einen offenen Showdown. Bei der Stunden dauernden Schießerei starben alle Drogenhändler und auch ein paar Mitglieder der MS. Seither haben die Salvatruchas das Quartier nicht mehr aus der Hand gegeben.“

Oscar Martínez, Reporter von „El Faro“, dessen Reportagen 2016 unter dem Titel „Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika“ auf Deutsch erschienen sind, fasst in einem Interview mit der „New York Times en Español“ vom 20. März 2016 diese Entwicklung so zusammen: „Wir haben Migranten geschickt und Gangs zurückbekommen“. Die salvadorianische Journalistin Bessy Rios spricht von einem „Geschenk der Vereinigten Staaten“, und in einer Reportage bei ARTE, die am 28. Januar 2016 gesendet wurde, wird von einer „ungewollten staatlich geförderten Banden-Migration“ gesprochen. Die Entstehungsgeschichten der Maras blenden regelmäßig einen Teil des Gesamtkontextes aus: Der Krieg, vor dem die Menschen aus El Salvador in die Vereinigten Staaten fliehen, wurde maßgeblich von den dortigen Regierungen finanziert; und von dort stammten auch die einschlägigen Militärberater. Die ganze Geschichte geht so: Um ein zweites Nicaragua zu verhindern, beschloss die Reagan-Regierung, den „Kommunismus“, die nationale Befreiung in El Salvador zu stoppen, und sie ließ sich das zwölf Jahre lang etwas kosten. Ergebnis dieser Intervention waren unter anderem Zehntausende Kriegsflüchtlinge, die in die USA kamen und sich in den dortigen Großstädten behaupten mussten, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Streetgangs. So entstanden die MS13 und die M18, deren Mitglieder bald USamerikanische Knäste füllten und größere Kontingente unter den Deportierten in den 90er-Jahren stellten.

Gewaltstatistik

Neben der Entstehungsgeschichte widmen die hiesigen Medienberichte immer auch der Statistik einen größeren Raum. Eine dpa-Meldung vom 27. Januar 2016, die unter anderem in der „Frankfurter Rundschau“ abgedruckt wurde, gibt die Mordrate für 2015 in El Salvador mit 105 pro 100 000 Einwohner*innen an, womit das kleine mittelamerikanische Land zum gefährlichsten Ort außerhalb von Kriegsgebieten geworden war. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik lag die Mordrate im selben Zeitraum bei 0,8 pro 100000 Einwohner*innen. Die Weltgesundheitsorganisation spricht bei zehn und mehr Morden pro 100000 Einwohner*innen von einer Epidemie. Und weiter: In Lateinamerika und der Karibik leben acht Prozent der Weltbevölkerung, hier geschehen aber 33 Prozent aller Morde weltweit. Zu den gefährlichsten Städten der Welt gehörten 2015 Caracas mit 120 Morden pro 100000 Einwohner*innen, San Pedro Sula in Honduras und San Salvador mit je 100. 92 der 50 gefährlichsten Städte der Welt liegen in Lateinamerika. Tjerk Brühwiller, Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ in São Paulo, ging in einem Artikel vom 29. Januar 2016 der Frage nach, ob es einen Zusammenhang zwischen Armut und Bandenkriminalität gibt. Das scheint eher nicht der Fall zu sein, denn während der Anteil der Armen an den 580 Millionen Einwohner*innen der Region seit dem Jahre 2000 von 92,7 auf 25,3 Prozent zurückgegangen ist, ist die Gewalt nicht geringer geworden. Eher korreliert sie mit der Ungleichheit, liegen doch zehn der weltweit 15 Länder mit der ungleichsten Einkommens- und Vermögensverteilung in Lateinamerika. Gravierend ist vor allem aber auch die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren, die nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO 2015 mehr als 100 Millionen Lateinamerikaner*innen betraf.

„Junge Männer ohne Arbeit und ohne beruflche Perspektiven sind eine leichte Beute für kriminelle Banden. Sie bilden die unterste Stufe einer ganzen Kaskade der organisierten Kriminalität, die vermutlich den Kern des Gewaltproblems bildet. Die treibende Kraft dahinter ist der Drogenhandel, der seit dem Aufkommen des Kokains ein beherrschendes Problem in der gesamten Region geworden ist.“ Bei „Spiegel Online“ war am 10. April 2016 dazu zu lesen, dass 90 Prozent der 850 Tonnen Kokain, die jährlich in den Andenländern produziert werden, durch Zentralamerika in die Vereinigten Staaten gehen. Dabei wird die Ware von Land zu Land teurer: kostet ein Kilo in Nicaragua noch 6000 US-Dollar, so sind es in El Salvador schon 11 000 und in Mexiko 20 000.

Zur Größe der Maras gibt es verschiedene Angaben: In den Jahren 2013 bis 2016 soll es in Honduras mit seinen 8,3 Millionen Einwohner*innen 7000 Mitglieder der MS13 und 5000 der M18 gegeben haben, in El Salvador mit 6,4 Millionen Einwohner*innen 12 000 MS13 und 8000 M18, und in Guatemala mit 16,2 Milllionen Einwohner*innen 17 000 MS13 und 5000 M18. Am häufisten genannt werden allerdings für El Salvador 40 000 Mitglieder der MS13 und 20 000 der M18. Von beiden Verbänden zusammen sitzen 10 000 Männer und Frauen im Gefängnis. Zählt man zu den aktiven Mitgliedern deren Familien und Freundeskreise hinzu, kommt man auf 600000 Personen, was ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung El Salvadors entspricht. Den 600 000 Mara-Mitgliedern stehen 24000 Polizist*innen, 10000 Soldaten und 28000 private Sicherheitskräfte gegenüber.

Auskunft über Ursachen bleibt sparsam

Verglichen mit der umfangreichen Präsentation des statistischen Materials sind die Auskünfte über die Ursachen der Bandenkriminalität eher sparsam. Entsprechend der geschilderten Entstehungsgeschichten war der interne Krieg in El Salvador die erste Ursache, verbunden mit den massiven Abschiebungen nach dem Ende des Krieges im Jahre 1992. Josef Oehrlein nennt in einem Artikel vom 14. Juni 2016 in der „Frankfurter Allgemeinen“, in dem auch Oscar Martínez‘ Reportagen-Band als „ein unglaublich vielfältiges Röntgenbild des Gewaltspektrums in Zentralamerika“ bezeichnet wird, darüber hinaus folgende Ursachen: „die Abwesenheit und Hilflosigkeit des Staats, die Korruptionsanfälligkeit der Staatsdiener, die Schutzlosigkeit von Kronzeugen und die Brutalität der Drogenbanden“. Wie die Maras ihr Geld verdienen, wird in den Artikeln und Reportagen, die ich gelesen habe, aufgelistet, ohne dass im Detail beschrieben wird, wie das genau funktioniert. Genannt werden Schutzgelderpressungen, Drogenhandel (vor allem der Straßenhandel, also der Einzelhandel), Entführungen, Waffenschmuggel, Autodiebstahl, bewaffnete Raubüberfälle. Dabei kommt es immer zu besonderer Gewalt gegen Frauen. Der Drogenhandel und das Mara-Unwesen sind keine getrennten Probleme, argumentiert zum Beispiel Rémy Ourdan in einem ausführlichen Artikel, der am 9. Oktober 2016 in „Le Monde“ erschien. Sie sind eng miteinander verbunden, denn die Maras bewachen zum Beispiel die Routen, auf denen die Drogen durch Mittelamerika hindurch in die USA geschafft werden, und sie erledigen Auftragsmorde für die Kartelle.

Schaden zwischen 8 und 20% des BIP

Der wirtschaftliche Schaden, den die Bandenkriminalität anrichtet, wird auf 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der Region geschätzt. Die Ausgaben für Prävention und Schadensbehebung machten 2014 in Honduras 20 Prozent des BIP, in El Salvador 15,5 Prozent, in Guatemala 8,7 Prozent des BIP aus.

Schließlich gehen die zu Rate gezogenen Artikel und Reportagen auch auf die Maßnahmen ein, mit denen seitens der Regierungen versucht wird, der Bandenkriminalität Herr zu werden. Boris Herrmann zitiert in einem am 30. Dezember 2015 in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienenen Artikel den salvadorianischen Anthropologen Juan José Martínez d’Aubuisson mit den Worten: „Man kann die Banden inzwischen nicht mehr auseinanderhalten, weil die Polizei fast wie eine weitere Bande agiert und sich an die Kette aus Rache und Vergeltung angehängt hat.“ Boris Herrmann fährt fort: „Einige Menschenrechtsgruppen und Kirchenorganisationen halten tapfer die Stellung und versuchen, unter erschwerten Bedingungen so etwas wie Präventionspolitik zu betreiben. Sie bringen traumatisierte Kinder und Familien aus der unmittelbaren Gefahrenzone, sie vermitteln Anwälte und Psychologen. Aber zu vielen Jugendlichen haben sie keinen Zugang.“ Nach einer Waffenruhe unter der ersten FMLN-Regierung unter Mauricio Funes, die vom März 2012 bis zum Mai 2013 dauerte und zu einer Halbierung der Mordrate führte, und nach der Erarbeitung des Planes für ein sicheres El Salvador (Plan El Salvador Seguro) im ersten Amtsjahr des derzeitigen Präsidenten Salvador Sánchez Cerén, eines umfassenden Planes, der Prävention, Repression, Resozialisierung, Begleitung der Opfer und Stärkung der Institutionen vorsah, setzt die Regierung seit Monaten jedoch wieder stark auf Repression.

“Dann wurde es Nacht”? – Es geht auch anders – Berichterstattung abgeflaut

In einer Reportage von 2015 aus dem Städtchen Berlín, abgedruckt in der bereits zitierten „Edition Le Monde diplomatique“ von 2016, fragte Roberto Valencia, ebenfalls Journalist bei „El Faro“, den damaligen Polizeichef nach den Gründen für den Frieden an diesem Ort in den Kaffeebergen des DepARTEments Usulután. Der führte die Ruhe auf die gute Zusammenarbeit der Institutionen untereinander und vor allem mit der Bevölkerung zurück – so könne Vertrauen geschaffen werden. Und man müsse die Jugendlichen beschäftigen, mit Sport, kulturellen Angeboten und in sozialen Projekten. So gab es in Berlín im Jahre 2014 „nur“ einen Mord, im benachbarten Mercedes Umaña waren es 15, in Santiago de María, wo eine Clica der Mara „Barrio 18 Sureños“ (die M18 hat sich vor ein paar Jahren in zwei Fraktionen gespalten) herrscht, waren es 25.

Aufgefallen ist mir, dass im Jahre 2016 fast alle großen Tageszeitungen Artikel und Reportagen über die Maras in Mittelamerika brachten, während es danach ruhig geworden ist um das Thema. Bei den Reportagen war auch ein Unterschied erkennbar zwischen beispielsweise dem Artikel von Toni Keppeler und der Reportage von Jan Christoph Wiechmann, die auf Nervenkitzel und Sensation getrimmt war, vielleicht weil sie für eine Illustrierte, den „stern“, geschrieben wurde. Sie endete mit den Sätzen: „Die Gerichtsmediziner luden sie (die Leiche einer jungen Frau, Anm. d. Red.) in einen weißen Plastiksack. Das Blut lief aus dem Sack wie dicke schwarze Tinte und hinterließ kreisende Muster auf dem Beton, die der einsetzende Abendregen wieder fortspülen würde. Dann wurde es Nacht in El Salvador.“

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 924, herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften nachträglich von uns eingefügt.

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