Eine geschmacklose polemische Überspitzung? Seien Sie nicht so sicher.
In der Özil-Debatte rund um die WM hatte ich auf in 5 Minuten online recherchierbare Sachverhalte aufmerksam gemacht. Nur wirklichen Assen des Sportjournalismus wie Thomas Kistner/SZ und Jan Christian Müller/FR gelang es viele Wochen später, das überhaupt in der Berichterstattung ihrer Medien zu berücksichtigen. Alle Anderen hielten – als Teil des gemeinsamen Entertainment-Business – dicht. Daran fühle ich mich bei dieser Katastrophe erinnert, denn für das Folgende benötigt man weit weniger als 5 Minuten Recherche.
Erwartbar war, das die unfähige italienische Regierung sich als Erstes einen schlanken Fuss macht, schuldige Sündenböcke sucht und findet, und sich zunächst vorrangig damit beschäftigt, auf die mit dem Finger zu zeigen.
Ebenso erwartbar, und in diesem Falle vernünftig, ist, dass die meisten deutschen Medien zu Bauingenieuren (haben Sie eine Frau darunter entdeckt?) ausschwärmen und die Fragen stellen: wie kann das passieren? Ist das auch bei “uns” möglich? Als wenn Genua nicht bei uns ist …. geschenkt. Ich selbst bin nie über diese Brücke gefahren, aber sehr oft mit der Bahn unter ihr durch. So, wie ich auch sehr oft den Nachtzug von Köln nach Bonn genommen hatte, der eines Abends den Bahndamm runter in Brühler Häuser raste.
Das ist alles traurig und schlimm.

Die Verantwortung

Doch kommen wir noch mal ernsthaft auf die Frage der Verantwortungen zurück. Um Deutschland herum ist die Privatisierung des Strassen- und Autobahnnetzes viel weiter fortgeschritten. Die Kohl-Regierung (1982-1998) hatte es sich zu Hauptaufgabe gemacht, gemäss des seinerzeit den Diskurs dominierenden Neoliberalismus öffentliche Infrastrukturen in private Hände zu überreichen, in dem Aberglauben, das würde dann effizienter behandelt. Sie begann mit Post und Telekom und hatte auch schon mit der Bahn angefangen. Letzteres wurde gebremst, in erster Linie durch unser aller Hassliebe zu diesem wichtigen und potenziell umweltfreundlichen Fortbewegungsmittel. Mit den deutschen Autobahnen, deren Entstehung aufs Engste mit der Erinnerung an den schlimmsten Völkermord der Geschichte verbunden ist, sollte ähnlich verfahren werden. Nach meiner oberflächlichen Kenntnis ist aber nur die Verbindung zwischen Hamburg und Bremen experimentell privatisiert worden; alles Flachland, nur ein paar Elbbrücken.

Benetton, ACS, Perez/Real Madrid

Das sieht woanders anders aus. Wir werden hier nur darüber unterrichtet, dass es sich bei der Betreiberin der eingestürzten Brücke um eine Firma namens “Autostrade” handelt. Mehr als ein “Jaja, die Italiener” löst das bei uns nicht aus. Wenige erwähnen, dass Autostrade einer Gesellschaft namens “Atlantia” gehört. Auch so ein italienischer Fantasiename. Wir Älteren lästern gerne, dass die Kinder heute nichts mehr lernen, weil ja alles in Wikipedia steht; sie wissen nichts mehr, weil sie ja alles da nachgucken können. Und stimmt das überhaupt? In politischen Fragen gibt es dort oft “Wars” zwischen verschiedenen Autor*inn*en. Welche Wahrheit setzt sich durch? Und welche nicht?
In diesem Fall frage ich mich: warum tun die Journalist*inn*en noch nicht einmal, was wir den Schulkindern als mangelhaft vorwerfen?
Bei Wikipedia erfahren wir im Atlantia-Eintrag, dass es eine komplizierte Verschachtelung privater europäischer Infrastrukturkonzerne gibt, die nicht nur Autobahnen, sondern alles Mögliche betreiben, u.a. auch Flughäfen. Und dass sich hier über das spanische Unternehmen Abertis eine Achse zwischen der Benetton-Familie (ja, die mit den Pullovern und der einst spektakulären-Werbung) und dem spanischen ACS-Konzern gebildet hat. ACS wurde lange von der postfranquistischen spanischen PP-Regierung protegiert, die über ihre Korruptionsaffären zerfallen ist. ACS hat den deutschen Bauriesen Hochtief aufgekauft. Und der Boss von ACS ist der Herr, der als Hobby dem ebenfalls postfranquistischen Fußballkonzern Real Madrid vorsitzt: Senor Florentino Perez. Der hat jüngst den alternden Cristiano Ronaldo an Juventus Turin (Eigentümer: Familie Agnelli) verkauft. Mann kennt sich, mann hilft sich. Wenn er nicht mit dem Privatflieger gekommen wäre, hätte er die jetzt eingestürzte Brücke genommen.

Wo ist das Journalismus-Handwerk geblieben?

Einige Medien meldeten, bei Atlantia sei “niemand zu erreichen” gewesen. Das wäre bei Real Madrid sicher anders. Warum hat dort niemand gefragt, welche Handynummer die Herren haben?
In den USA ist vieles schlechter, insbesondere die Infrastruktur. Deutsche Brückeningenieure könnten dort nicht gut schlafen. Aber das US-Schadensersatzrecht, das derzeit über Bayermonsanto herfällt, das würde ich den Herren von Atlantia und Abertis jetzt wünschen. Und den trauernden Hinterbliebenen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net