Herbert Reul ist nicht irgendein Minister. Er ist Innenminister in Nordrhein-Westfalen und damit Verfassungsminister des Landes. Und als solcher hat er eine besondere Verpflichtung, gegenüber den Grundsätzen von Recht und Gesetz und er hat sogar die Aufgabe, darauf zu achten, dass die Landesregierung verfassungskonforme Gesetze beschließt und verfassungskonform handelt. Auf Bundesebene ist diese Kompetenz anders geregelt, dort hat das Justizministerium diese Querschnittsaufgabe. Deshalb ist es nicht beliebig, wenn er sich zur Anwendung von Recht und Gesetz äußert. Dabei hat er wohl einen schweren Fehler begangen, möglicherweise gar seine Amtspflicht verletzt.

Es geht um die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns

Reul äußerte im Bezug auf das Urteil des Oberverwaltungsgreichtes Nordrhein-Westlfalen im Falle Samy A., Gerichte müssten auch immer das “Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen”. Was ist daran so grundfalsch? Ganz einfach. Der Versuch, Gerichte und das Rechtssystem unter öffentlichen Druck zu setzen, wie es Donald Trump in den USA schon praktiziert. Der Anfang vom Ende des demokratischen Verfassungsstaats. Schon der römische Rechtsgrundsatz “judex non calculat” – der Richter rechnet nicht – gibt den wichtigen Hinweis, dass über Rechtstaatlichkeit nicht abgestimmt wird. Dass Gerichte als Judikative und unabhängige “dritte Gewalt” der Verfassung neben Exekutive und Gesetzgeber ausschließlich nach Recht und Gesetz und nicht nach “Volkes Stimme” entscheiden, gehört zu den existenziellen Grundprinzipien des Grundgesetzes.

Artikel 19 Absatz IV unserer Verfassung garantiert jedem ohne Ansehen der Person, vor Gericht das Handeln des Staates überprüfen lassen zu können. Dabei müssen die Bürger sicher sein können, dass ohne Vorurteile allein nach Recht und Gesetz geurteilt wird. Ob der Staat auch nach Recht und Gesetz gehandelt hat, muß überprüfbar sein und nur darum ist es im Verfahren um die Abschiebung von Samy A. gegangen. Nicht um die Frage, ob er ein “Gefährder” ist, nicht darum, wie gefährlich er möglicherweise war, hatte das Gericht zu beurteilen, sondern einzig und allein, ob das Verfahren rechtmäßig war oder ob die Behörden bei der Abschiebung gesetzeswidrig vorgegangen sind.

Und das sind sie offensichtich nicht, sonst hätten die Verwaltungsgerichte nicht so geurteilt und – als besonders beachtliche Bemerkung – auch noch den handelnden Behörden ins Stammbuch geschrieben, hier hätten wohl die Grenzen des Rechtstaates ausgetestet werden sollen. Ein Alarmzeichen für den Rechtstaat. Das ist eine schallende Ohrfeige für die handelnden Institutionen, das NRW-Migrationsministerium, das Bundesinnenministerium und seine nachgeordnete Behörde BAMF und die Stadt Bochum. Es kann nicht sein, dass die Stimmungslage der Öffentlichkeit, geschürt von populistischen Parteien oder Äußerungen des Bundesinnenministers Seehofer, rechtstaatliche Entscheidungen beeinflussen.

“Volksempfinden” als Indikator für Unrecht

Der Grundsatz der Rechtstaatlichkeit und Unabhängigkeit von angeblichen Stimmungen in der Bevölkerung wiegt in seiner Bedeutung um so gewichtiger, als  es schon einmal eine Zeit in Deutschland gegeben hat, in der das “gesunde Volksempfinden” eine zentrale Rolle spielte. Das “gesunde Volksempfinden” ist in Hitlers Unrechtstaat 1935 zum Beispiel als Strafgrund neben den gesetzlichen Tatbeständen als Generalklausel ins Strafrecht § 2 StGB eingeflossen, um Urteile nach der Rasseideologie und NS-Moral zu ermöglichen und letztlich willkürliche Verurteilungen zu legalisieren. Die Hassurteile des “Volksgerichtshofs” in Nürnberg und ihrem Vorsitzenden Roland Freisler beriefen sich allesamt auf “gesundes Voksempfinden”.

In der noch jungen Bundesrepublik Deutschland dauerte es lange, um die letzten Reste dieses Rechtsdenkens zu überwinden. In der Diskussion um eine Wiedereinführung der Todesstrafe angesichts mehrerer Morde an Taxifahrern in den 60er und 70er Jahren spielte das “gesunde Volksempfinden” eine gewichtige Rolle. Damals widerstand die Politik im Bundestag aus gutem Grund solchen Forderungen und führende Rechtspolitker wie der Sozialdemokrat Prof. Horst Ehmke und die liberalen Professoren Ulrich Klug und Jürgen Baumann traten diesem Denken mit aller Entschiedenheit entgegen. Migrationsminister Stamp wäre zu empfehlen, sich an den rechtstaatlichen Vorbildern seiner Partei ein Beispiel zu nehmen, statt mit Winkelzügen das Handeln seines Ministeriums auf dem schmalen Grat am Rand der Legalität zu rechtfertigen.

Populismus bekämpfen, demokratisch auseinandersetzen 

Und auch Herbert Reul sollte überdenken, was er – vielleicht unbedacht – da gesagt hat. Denn es sagt viel über Geschichtsbewusstsein, Sensibilität, Fingerspitzengefühl und Rechtstaatsbewusstsein, wie sich ein Verfassungsminister in Nordrhein-Westfalen zum Urteil des Oberverwaltungsgerichts äußert. Vielen nicht juristisch geschulten Menschen mag es auf den ersten Blick schwer fallen, dass ein mutmaßlicher Beschützer eines Terroristen nun mit großem Aufwand zurückgeholt werden soll. Die Aufgabe eines Verfassungsministers in dieser Situation wäre es, zu erklären, warum es hier um rechtstaatliche Prinzipien und die Rechtsmäßigkeit von Verwaltungshandeln geht, das eben nicht nicht in den Geruch kommen darf, nach Stimmungen in der Bevölkerung zu urteilen.

Grüne und SPD haben den Rücktritt von Joachim Stamp gefordert. Das ist für die öffentiche Diskussion aus Oppositionssicht sinnvoll, um das politische Gewicht des Vorgangs herauszustellen. Aber etwas anderes wäre genauso wichtig: Wenn Stamp und Reul einsehen würden, dass sie sich politisch von Populisten haben instrumentalisieren lassen und ihnen eine Umkehr ermöglicht würde, wäre eine ganze Menge gewonnen. Denn gegen Populismus und rechtsextreme Hetze, die in Zukunft mit “Breitbart”-Gründer Brannon in den kommenden Jahren noch heftig auf uns alle einprasseln wird, werden Demokraten in allen Parteien diesseits der AfD dringend gebraucht.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net