Landauf, landab spekulieren Journalist*nnen derzeit darüber, welche Auswirkung dieser oder jener Ausgang der Hessenwahl auf die Koalition in Berlin haben wird. Angela Merkel und Andrea Nahles müssten eigentlich, wenn diese Spekulant*innen recht haben, derzeit meditieren, beten, Pilates oder Yoga – z.B. den “herabschauenden Hund” – Übungen machen, Glaskugelbesitzer*innen besuchen oder Schamanen um Hilfestellung bitten. Beide scheinen aber munter und wohlauf – warum auch nicht? Es mag ja sein, dass die letzte Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen der CDU 28%, SPD und Grünen je 20%, Linken und FDP je 8% und der neonazistischen AfD 12% prophezeiht. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Bürger die Wahl haben, dass eine Wahl auch eine Wahl ist, weil ihr Ausgang spannend bleibt. Mit ein bisschen Abstand betrachtet fallen doch nur wenige Unsicherheiten auf:

Unsichere Prognosen, unberechenbares Wählerverhalten

Zum einen ist überhaupt nicht klar, wie realistisch derartige Befragungen wirklich sind. Traditionell sind die Anhänger von rechtsextremen Parteien wie der AfD zurückhaltend mit ihren Angaben, wählen vermehrt “heimlich”, insbesondere nach Chemnitz, weil sie insgeheim wissen, dass sie letztlich braunes Gedankengut unterstützen. Noch ist es nicht so weit, dass man das in der Verwandschaft offen und gerne bekennt. Sodann sind etwa 40% der Wählerschaft unentschieden und die Wahlbeteiligung ist unklar – bei Umfragen, deren Befragtenzahl um die 1.000 liegt, können schon 1-2 Wechselbefragte eine Menge ausrichten. Und es handelt sich immer um Projektionen aus der Vergangenheit in die Zukunft – nichts garantiert, dass auch am Sonntag so gewählt wird. Und letztlich wirken auch diese Umfragen meinungsbildend: CDU-Wähler, die merken, dass die Grünen so stark werden, dass sie gar Volker Bouffier gefährden könnten, werden mobilisiert, mobilisieren in Familie und Bekanntenkreis. Unzufriedene, die mit dem Gedanken spielten, FDP oder aus Protest AfD zu wählen, werden vieleicht verunsichert. Alternative, die bisher vom “Realo-Kurs” der Grünen enttäuscht waren, könnten Grüne oder Linke wählen, weil rechnerisch auch eine rot-rot-grünes Bündnis möglich werden könnte. Und die Sozialdemokraten könnten ausnahmsweise die Nerven behalten. Also es wird zum ersten Mal wirklich spannend in Hessen, wer da welche Mehrheit bilden können wird. Das ist Demokratie und das ist gut so.

Drohender Stimmenverlust schweißt zusammen

Aber alle anderen Spekulationen über Merkel und Nahles, die GroKo in Berlin sind völlig überflüssig, werden am Wahlmontag in der Feststellung, die GroKo werde nun ihre “Sacharbeit” um so harmonischer fortsetzen, plattgeredet werden. Warum? Ganz einfach: Ein Koalitionsbruch und Neuwahlen können sich derzeit nur zwei Parteien wünschen: Die Grünen und die AfD.  Alle anderen wären potenzielle Verlierer von Bundestagswahlen aus durchaus unterschiedlichen Gründen. Und deshalb wird die GroKo halten und es wird keine Neuwahlen geben. Von Minderheitsregierungen und von weiterem Regierungstheater ganz zu schweigen. CDU/CSU, und SPD würden schließlich marginalisiert, FDP und Linke würden sich dem Risiko aussetzen, ihren derzeitigen Status als 2. oder 3. Kraft zu verlieren. Und nicht nur das: Die Gelder der Parteienfinanzierung würden nach einer solchen Bundestagswahl noch weiter gekürzt, die Zuwendungen der politischen Stiftungen ebenfalls – was eine tiefgreifende Schwächung des Machtapparats vor allem der CDU und der SPD bedeuten würde. Die einfache Frage, die Karl Marx zu beantworten pflegte, wonach das Sein das Bewusstsein betimme, ist damit geklärt.

Seehoferchens Mondfahrt?

Es wird nur einen Unsicherheitsfaktor geben – egal, wie Hessen ausgeht: Horst Seehofer. Entweder, sein Landesverband fällt über ihn her und schlachtet ihn politisch – ob nur für die Bayernwahl oder auch für Hessen ist egal, sein Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen. Oder die Kanzlerin würde ihn kaltlächelnd für seine Loyalität ihr gegenüber politisch “auf den Mond schießen”, also entlassen. Ist aber nicht Merkels Art. Viel wahrscheinlicher scheint mir eine dritte Variante, die für ihn dem Dauerbesuch in einem Sado-Maso Studio gleichkäme: Merkel wird ihn demonstrativ lauwarm gegen Anwürfe aus Bayern beschützen, behalten und damit zum handzahmsten Innenminister aller Zeiten von ihren Gnaden degradieren. Als “Belohnung” für den CSU-Parteitag 2016 – man sieht sich eben immer mehrfach im Leben. Ob sie das oder jenes tut, ist schwer zu beurteilen, – es gibt da immer noch die alte Berliner Regierungsviertel-Legende: “Was passiert, wenn Merkel in ein Bassin mit Haifischen fällt? – Eine ganze Weile gar nichts, und dann sind plötzlich alle Haie tot.“ Schaumermal.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net