Mit dem deutschen Steinkohlebergbau sterben kollektive soziale Hoffnungen aus, für die noch niemand Ersatz gefunden hat
Zunächst bitte ich Sie um Entschuldigung, wenn Sie jetzt auf dem Weg ins Westfalenstadion sind. Nehmen Sie in Dortmund Hbf. die Eurobahn nach Gelsenkirchen, dauert nur 25 Minuten. Vom Hauptbahnhof auf keinen Fall nach Schalke fahren, auch wenn es “Auf Schalke” heisst. Nehmen Sie die U-/Straßenbahn Richtung Buer. Die Stadionkiste steht auf dem Berger Feld. Wenn Sie sich zum Schloss Berge verfahren, können Sie von da aus laufen.
In dieser Stadionkiste wird – gewiss auch heute – noch ein absurder, ritualartiger Steinkohlebergbau-Kult betrieben. Von den 60.000, die heute im Stadion sein werden, hat niemand mehr existenziell mit dem Bergbau zu tun. Mit den Kulthandlungen wollen sie sich marketingstrategisch versichern, im Entertainment-Meer des aktuellen Kapitalismus was Besonderes zu sein. Das scheint vorübergehend zu funktionieren. Stimmen tut es trotzdem nicht.

Statt Bergbau Entertainmentmaschinen

Gerade diese verlogene Trickserei mag es sein, die mir dennoch Respekt abnötigt. Immerhin sind die Konzerne BVB 09 Borussia Dortmund und FC Schalke 04 (Unternehmenssitz: Gelsenkirchen) in ihren Städten heute nicht nur Entertainmentmaschinen sondern auch bedeutende Arbeitgeber. Und – in begrenztem Masse – sogar international konkurrenzfähig. Mit der “Süd” im Westfalenstadion hat der BVB sogar ein architektonisches und soziales Alleinstellungsmerkmal.
Heute wird zum Ritual das symbolische und tatsächliche Ende des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet gehören. Die letzte Zeche in Bottrop ist von meinen Kindheitswohnorten in Gladbeck und Essen zu Fuss zu erreichen (besser aber mit dem Fahrrad). Die Klimaproblematik der Steinkohle ist heute jedem klugen Kind bekannt. Aberwitzig, wie wir Deutsche traditionell agieren, machen wir die früher dicht, als die viel dreckigere Braunkohle. Und die deutsche Maschinenbauindustrie betet zum Himmel, dass die Welt weiter Steinkohle abbauen möge, damit sie ihre tollen Anlagen für die Abbau- und Klimatechnik sowie die Grubensicherheit weiter exportieren möge. Die meisten weltweiten Abbauländer, die sich diese deutsche Spitzentechnik nicht leisten können oder wollen, nehmen stattdessen zahlreiche Todesopfer unter den Malochern in Kauf.

Empfehlenswert: ARTE-Zweiteiler “Die Steinkohle”

Noch mein Opa, der mir meine Fußballmacke vererbt hat, starb vorzeitig an der Lungensilikose. Mit 69 hatte er alle seine Arbeitskollegen überlebt. Erst die Generation meines Vaters kam dank fortgeschrittener Klimatechnik darum herum. Diese Geschichte wurde, exzellent verbunden mit der politischen und ökonomischen, letzte Woche in dem empfehlenswerten ARTE-Zweiteiler “Die Steinkohle” (Mediathek nur noch bis Montag; Wiederholung am Mittwochmorgen) erzählt.

Von jetzt an gehts bergab?

Der historisch, politisch und sozial bedeutsamste Sachverhalt der deutschen Steinkohlegeschichte ist, dass unsere Eltern das Versprechen “Unsere Kinder sollen es mal besser haben” einhalten konnten. Unser zentrales politisches Problem der Gegenwart ist, dass sich das viele Eltern heute nicht mehr zutrauen.
Stattdessen sickern apokalyptische Zukunftsvorstellungen ins gesellschaftliche Bewusstsein, die sich zu selbsterfüllenden Prophezeiungen entwickeln können. Es sind führende Intellektuelle unserer was-mit-Medien-Branche, die das transportieren. Hier z.B. der wie immer amüsante Leo Fischer (Ex-Titanic-Chef) in der taz, oder hier die Kolleg*inn*en von der heute-show (ab Minute 28) mit ihren Phantasien zur Künstlichen Intelligenz (KI). Sie repräsentieren zeitdiagnostische Symptome, die in erster Linie darauf hinweisen, dass Deutschland hier den Anschluss verliert an die Welt da draussen, weit entfernt davon ist, ein eigenes Selbstbewusstsein, geschweige denn eine tragfähige Strategie zu entwickeln.
Oder haben Sie irgendetwas von einer entsprechenden Diskussion in unserer bedeutendsten Regierungspartei, die gerade in Hamburg tagt, wahrgenommen?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net