Johannes Raus Devise “Gar nicht erst ignorieren”, in den 80ern auf die Grünen gemünzt – ich hatte mir fest vorgenommen, sie auf Charaktermasken wie die Herren Scheuer oder Spahn anzuwenden. Aber es geht nicht. Es ist zum Begreifen heutiger Politik nicht hinreichend. Schliesslich habe ich selbst in aller Ausführlichkeit analysiert, wie es dahin kommen konnte, dass immer mehr solcher Nullen in der Politik eine immer grössere Rolle spielen können.
Arroganz und Zynismus können in Einzelfällen das Durchstehen des Alltags erleichtern. Aber sie sind politisch unnütz. Diese Figuren repräsentieren leider einen Megatrend: die absolute Schmerz- und Empathiefreiheit, was die Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit betrifft, weil die Jungs glauben, nur so ihren Karriereaufstieg im brutaler werdenden Konkurrenzkampf verwirklichen zu können.
Es gab Zeiten, da hätte ein Gesundheitsminister – lange Zeit ein Job für die “fürsorglicheren” Damen – der sich zu Krebserkrankungen in der Weise des Herrn Spahn äusserte, zurücktreten müssen – bzw. der Kanzler hätte ihn sofort gefeuert. Frühere Kanzler hätten sich besorgt gezeigt, um das Ansehen ihrer Regierung, ihrer Koalition, ihrer Partei. Angela Merkel dagegen sieht neben solchen Männerrudeln mit wölfischen oder haifischartigen Verhaltensregeln richtig gut aus, wie eine Staatsfrau. Asymmetrische Demobilisierung … läuft!
Heute gelingt diesen Figuren, was auch ich selbst nicht mehr für möglich gehalten habe: das Ansehen von Politiker*inne*n in der Öffentlichkeit noch weiter zu senken. Für Typen wie Scheuer oder Spahn erfüllt das einen “guten” Zweck: noch weniger junge Menschen würden in ihrem Angesicht überhaupt nur auf die Idee kommen, sich durch eigenes Engagement auf diesem “Arbeitsmarkt” einzumischen. Ihr demonstratives. spektakuläres Amtsversagen fördert also ihre Karriere.
Und ihre Ideologie. Wie der Shutdown Trumps Ideologie vom businessschädlichen Staat materiell begünstigte. Je unterirdischer das Ansehen demokratischer Politik, umso mehr gelingt ihre Abschaffung und das freie Spiel eines Raubtier-Kapitalismus. Die Bewegung der Schüler*innen hat Recht: wir dürfen diesen Knallchargen unsere Demokratie nicht überlassen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net