Politische Wirksamkeit in der Post-Parteiendemokratie
Von Clemens Holtmann
In ganz Europa geht die Ära der klassischen Parteiendemokratie zu Ende. Diejenigen, die für einen politischen Aufbruch kämpfen, versammeln sich in Protestbewegungen statt in Parteien. Ihre tatsächliche Wirksamkeit ist jedoch gering. Verändern könnten das neue, projektbasierte Start-Up-Parteien.
Klassische Parteien sind tot. Sie wissen es nur noch nicht. Oder wollen es nicht wissen. Das Zucken wird weniger, der Atem flacher. Schon heute wird Europa regiert von Zombie-Parteien, die ihren Bewegungscharakter vergessen haben und deren Mitglieder schon vor Jahren ausgetreten oder gestorben sind. Die, die bleiben, bleiben aus Karrieregründen, Phantasielosigkeit oder Nostalgie.
Gestorben sind klassischen Parteien so wie ländliche Gebiete veröden: durch den Wegzug der Jungen. Durch mangelnde Infrastruktur. Durch Mittelmäßigkeit und Hoffnungslosigkeit. Wer kann, geht weg. In die große Stadt. Dort, wo es Zukunft, Innovation und Gleichgesinnte gibt. Zurück bleiben die Abgehängten. In einer Welt, in der Umbrüche, Innovationen und Kapital sich gegenseitig beschleunigen, haben klassische Parteien die Kontrolle verloren. Ihre Infrastruktur ist veraltet. Mittelmäßigkeit und Hoffnungslosigkeit bestimmen das Bild. Die Jungen sind weggegangen. Die klassischen Parteien sind selbst zu Abgehängten geworden.
Es wäre zum bemitleiden, wenn es nicht so dramatisch wäre. Die perversen Auswüchse des Kapitalismus; der Klimawandel, der Millionen Menschen zu Flüchtlingen machen wird; die Überwachung und Einschränkung der Freiheit – und nichts, was uns Hoffnung oder gar Vertrauen in die Zukunft geben könnte. Denn die Abgehängten regieren uns. Und so müssen Menschen heute wählen zwischen Zynismus, Resignation oder dem Rückzug ins Private. Eine ganze Generation verliert gerade den Glauben an eine positive, gestaltende Kraft der Demokratie. Einzig die Lehren der Geschichte haben bisher Schlimmeres verhindert.
Während sich die europäischen Gesellschaften massiv verändert haben, ist die Politik in großen Teilen dieselbe geblieben. Dabei geht es weniger um die Frage, was für Politik gemacht wird, sondern wie sie gemacht wird. Klassische Parteien haben sich als vollkommen veränderungsresistent erwiesen. Die Ignoranz und Kurzsichtigkeit der Spitzen für eine neue Art der Politik zusammen mit der Trägheit und dem Konservativismus der Basis wurde für sie zu einer tödliche Mischung. Für die jungen Generationen, die mit ihren Fähigkeiten, Werkzeugen und Netzwerken Politik verändern könnten, ist schon der Gedanke an Parteien Zeitverschwendung. Sie finden Wirksamkeit, Erfüllung und Anerkennung in der Wirtschaft, in NGOs oder in sozialen Bewegungen. Wer könnte es ihnen verübeln?
Doch etwas ist in Bewegung. Aus der Erkenntnis, dass soziale Bewegungen und NGOs ohne die Unterstützung der Parlamente zahn- und wirkungslos bleiben, entsteht gerade ein neues Vehikel für Politik: Start-Up-Parteien. Sie stellen die Logik und Strukturen klassischer Parteien radikal in Frage. Sie sind eine neue Kategorie politischer Organisationen, begrenzt nur durch ein rückständiges Parteiengesetz. Sie sind Hoffnung in Zeiten politischer Gleichgültigkeit und Verdrängung.
Start-Up-Parteien sind auf dem Papier eine Partei, unterscheiden sich aber in Form, Struktur und Selbstverständnis radikal von klassischen Parteien. Sie sind eine handlungsfähige Zwischenstufe auf dem Weg in ein neues, nachhaltiges, zukunftsfähiges Demokratiesystem. Sie wollen das überforderte Parteiensystem neu denken, gleichzeitig aber dringende gesellschaftliche Herausforderungen im Hier und Jetzt politisch lösen. Sie denken also systemische und gegenwartspolitische Transformation gemeinsam.
Intro: Start-Up-Parteien
Start-Up-Parteien arbeiten projektbasiert. Sie existieren nicht aus Selbstzweck (“Partei um der Partei willen”), sondern zur Erfüllung eines politischen Zwecks. Start-Up-Parteien werden deshalb vor einer Wahl gegründet und nach einer Wahl wieder aufgelöst oder in ihren Tätigkeiten stark begrenzt.
Indem sie projektbasiert arbeiten, werden sie wieder attraktiv für Menschen, die für visionäre politische Ziele kämpfen. Für Menschen, die aus den richtigen Gründen (z.B. aus Wut über Ungerechtigkeiten oder aus Sorge um die Zukunft) bereit sind, für eine gewisse Zeit politische Verantwortung zu übernehmen. Eine Start-Up-Partei, die einem klaren Zweck folgt, kann solche Menschen für sich gewinnen. Sie lebt allerdings von ihrer Glaubwürdigkeit – dem Versprechen, ihrem Zweck zu folgen und nicht zu einer klassischen Partei zu werden. In diesem Wissen verankern Start-Up-Parteien starke Regeln und Bedingungen (etwa wann die Partei wieder aufgelöst werden muss) tief in ihrer Satzung und Kultur.
Start-Up-Parteien sind confluences – ein Zusammenschluss sozialer Bewegungen zu einer offenen, demokratischen Plattform. Sie versuchen nicht, soziale Bewegung zu sein, sondern vertreten deren Anliegen in Wahlen. Sie sind nicht exklusiv, sondern inklusiv, und versprechen so eine bessere und direktere Repräsentation. Sie gründen sich für Wahlen, denn die Teilnahme an Wahlen vervielfacht ihre Wirksamkeit. Inhaltliche Positionen, die vorher ignoriert oder abgewiesen wurden, sind plötzlich wählbar und werden so zu einer realen Konkurrenz. Sie setzen klassische Parteien unter Zugzwang und bestimmen dadurch den Diskurs.
Die zeitliche und räumliche Fokussierung auf einzelne Wahlen führt zu einer häufigen Iteration von Gründungen. Start-Up-Parteien tragen deshalb wenig Altlasten mit sich. Ihre Strukturen, Techniken und Werkzeuge sind State of the Art. Sie setzen neue Standards in Bezug auf Partizipation und Transparenz. Durch Wissensmanagement, Wissensaustausch und eine Kultur des Lernens gewinnen Start-Up-Parteien rasch einen uneinholbaren Wissensvorsprung.
Statt auf sich selbst konzentrieren sich Start-Up-Parteien auf ihre Mission. Ist ihre Mission (die Teilnahme an einer Wahl zu einem bestimmten politischen Zweck) erfüllt, lösen sie sich wieder auf. Dadurch genießen sie eine hohe Glaubwürdigkeit und Integrität. Der Erfolg einer Start-Up-Partei steht und fällt mit ihrer Mission. Sie ist wichtig, inspirierend, dringend, strategisch und symbolisch. Sie ist klar im Warum und im Wie. Dadurch zieht sie Ressourcen an, zum Beispiel Zeit, Geld, Wissen und Mut.
Start-Up-Parteien sind keine Mitgliederparteien. Ihre Mitglieder sind wenige Profis, hochengagierte, professionelle und willensstarke Menschen, die das Projekt zum Erfolg führen. Sie besitzen eine hohe emotionale Kompetenz, Teamfähigkeit und ein weit entwickeltes Demokratieverständnis. Ihre demokratische Legitimation gewinnen Start-Up-Parteien, indem sie sich sowohl bei Programmentwicklung als auch bei Organisationsentscheidungen und Mitarbeit stark für Nicht-Mitglieder öffnen. Online-Tools und Offline-Veranstaltungen erlauben verbindliche Mitbestimmung.
Die Mitglieder von Start-Up-Parteien verstehen sich als ausführendes Organ, als Exekutive, als Moderation. Sie haben starke eigene Meinungen, aber treten einen Schritt zurück, um eine breite Willensbildung in klugen, offenen, inklusiven, demokratischen Prozessen ermöglichen. Sie vertreten das so entstandene Programm in der Öffentlichkeit und übernehmen Verantwortung für die Umsetzung. In diesem Sinne sind sie eine neue Art von Elite – eine Elite, die ihre Privilegien nutzt, um das Gemeinwohl zu mehren, anstatt ihren individuellen Profit zu maximieren. Sie sind Politiker*innen, die sich selbst neu erfinden. Sie sind Aktivist*innen, die bereit sind, für ihrer Ideen und Überzeugungen in ein Parlament zu gehen.
Um relevant zu sein und Zersplitterung zu vermeiden, sind Start-Up-Parteien sehr offen für Bündnisse. Oft entstehen sie als gemeinsames Projekt aus einem Bündnis sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Initiativen. Die dahinterstehenden Menschen und Organisationen geben Ressourcen und vernachlässigen ihr eigenes Projekt, zu Gunsten der gemeinsamen Start-Up-Partei und letztlich zu Gunsten ihrer eigenen inhaltlichen Wirksamkeit. Sie stellen ihr Ego zurück, weil sie an die Sache glauben. Neueren sozialen Bewegungen und Organisationen fällt das wesentlich leichter als etablierten. Zu Gunsten von Bündnissen machen Start-Up-Parteien Kompromisse. Dabei gelten rote Linien, da die Start-Up-Partei sonst Glaubwürdigkeit und damit Unterstützung verliert. Kompromisse, die die roten Linien nicht überschreiten, werden dagegen von allen beteiligten Bündnispartnern akzeptiert und unterstützt.
Ob die Gründung einer Start-Up-Partei Sinn macht und erfolgreich sein kann, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Vor jeder Gründung sollten Key Performance Indicators (KPIs) festgelegt werden, um die Aussicht auf Erfolg beurteilen zu können. Sie sollten mindestens die Unterstützung durch Bewegungen und Organisationen, die Fähigkeiten der Kerngruppe, die Mission, die Kandidat*innen, die Fundraising- und Campaigning-Fähigkeiten, das Programm und den Kontext der Wahl kritisch einschätzen und beurteilen.
Chancen für Start-Up-Parteien bestehen zunächst vor allem auf der kommunalen Ebene. In ganz Europa bilden sich bereits Stadtbewegungen, die ihre Stadt zu einer Rebel City erklären. Aber auch in kleineren Städten haben unabhängige Bürgermeister*innen gute Aussicht auf Erfolg, denn Kommunalpolitik ist geprägt von veralteten Strukturen und Prozessen. Um die Wirksamkeit zu erhöhen, sollten sich unabhängige Stadtbewegungen miteinander vernetzen, wie das bereits im Rahmen der Fearless Cities und in Italien durch die Partei Italia in Comune passiert.
Aber auch auf größeren Ebenen entstehen bereits Start-Up-Parteien. In Amerika lässt sich von den Wahlkämpfen einzelner Kandidat*innen wie Beto O’Rourke viel lernen (auch wenn sie mit klassischen Parteien antreten, ist der Projekt-Charakter ähnlich). In Europa gründet die Bewegung VOLT reihenweise Parteien. Und in Deutschland unterstützen DiB und DiEM25 die Start-Up-Partei DEMOKRATIE IN EUROPA.
Träger von Start-Up-Parteien
Um Kontinuität, Austausch und soziale, politische Räume zu schaffen, können hinter Start-Up-Parteien tragende Bewegungen oder Organisationen stehen. Solche Träger entwickeln klare politische Ziele im Rahmen bestimmter Werte. Ihr Zweck und ihre Tätigkeit ist die Verwirklichung ihre langfristigen gesellschaftlichen Vision – damit unterscheiden sie sich radikal von klassischen Parteien, deren Zweck der Erhalt von Macht und deren Tätigkeit das Verwalten des Status Quo ist.
Träger bilden eine oder mehrere Start-Up-Parteien aus sich heraus, bleiben aber als eigenständige Bewegung oder Organisation bestehen. Dieses neue Phänomen schließt die bisher unversöhnliche Lücke zwischen Zivilgesellschaft und Politik. Start-Up-Parteien bieten Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen einen Weg in die Parlamente, ohne dass sie sich zu einer klassischen Partei bekennen müssen. Sie erhöhen so ihre politische Wirksamkeit und erhalten gleichzeitig ihre überparteiliche Unschuld. Um das abdriften einer Start-Up-Partei in die klassische Politik zu verhindern, versuchen Träger, die neu gegründeten Start-Up-Parteien an sich zu binden, etwa durch die sorgfältige Auswahl und Begrenzung der Gründungsmitglieder oder das Lizensieren der eigenen Marke.
Damit aus einer einzelnen Bewegung oder Organisation ein Träger werden kann, muss eine Breite von Themen abgebildet werden und Kompetenz vorhanden sein. Dazu können sich mehrere Bewegungen und Organisationen verbünden. Gemeinsam in fairen, transparenten und demokratischen Prozessen erarbeiten sie inhaltliche Positionen als Basis für die zu gründende(n) Start-Up-Partei(en). Eine Ein-Themen-Bewegung, die eine Ein-Themen Start-Up-Partei gründet, hat hingegen wenig Aussicht auf Erfolg (Bündnis Grundeinkommen).
Die einzelnen Bewegungen oder Organisationen bauen, im Gegenteil zu Start-Up-Parteien, auf einer breiten Mitgliederbasis auf. Die Mitgliedschaft ist üblicherweise sehr einfach zu erlangen – online und kostenlos. Mitglieder treten nicht ein und ggf. wieder aus, sondern melden sich an und werden ggf. inaktiv. Bewegungen und Organisationen übernehmen damit das erfolgreiche und bekannte Internetmodell, bei dem sich die User schnell und unverbindlich registrieren können. Die dadurch vergleichsweise sehr hohen Mitgliederzahlen (aufstehen: 170.000, DiEM 70.000) garantieren eine Grundreichweite und ein
Grundfundraisingpotential. Die vielen Mitglieder organisieren sich selbstständig, dezentral und online.
Beispiele für solche tragenden Bewegungen oder Organisationen sind die Indignados/15M (aus denen die mittlerweile eher klassische Partei Podemos hervorgegangen ist), P.A.H. (=> Barcelona en Comu), DiEM25 und VOLT. Einige opportunistische Berufspolitiker*innen (Macron, Kurz, Pilz) versuchen zudem, Bewegungen zu simulieren. Dass sie damit Erfolg haben, zeigt, wie groß der Wunsch nach politischer Erneuerung durch Start-Up-Parteien ist.
Start-Up-Parteien im Parlament
Der Einzug in ein Parlament ist für eine Start-Up-Partei ein riesiger Erfolg, stellt sie allerdings auch vor große Herausforderungen. Sie verlängert zwangsläufig die Lebenszeit der Start-Up-Partei und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich Prozesse und Kultur verschlechtern, sich unerwünschte Machtstrukturen bilden und ein Selbsterhaltungstrieb entsteht, der nicht mehr dem politischen Zweck, sondern nur noch der Partei selbst dient.
Start-Up-Parteien sollten daher auch nach einem Erfolg der Versuchung widerstehen, zu Mitgliederparteien zu werden. Stattdessen muss die Kerngruppe den Kontakt zu den Mitgliedern der Trägern und der Bevölkerung insgesamt noch intensivieren und offene, inklusive Beteiligungsmöglichkeiten anbieten. Mit dem Einzug ins Parlament ändert sich die Rolle der Start-Up-Partei: sie muss von einem aggressiven Campaigning-Modus zu einem verantwortungsvollen, partizipativen Gestaltungsmodus wechseln. Maximale Transparenz (auch wenn es weh tut) und institutionalisierte Kontrollmöglichkeiten für Nicht-Mitglieder schützen die Start-Up-Partei zusätzlich vor sich selbst. Das Gründen von Untergliederungen sollte unbedingt vermieden werden. Die nicht für die laufenden Geschäfte der Start-Up-Partei benötigten Gelder aus der Parteienfinanzierung sollten mittels einer (innerhalb ihres Mandats) unabhängigen Stiftung an die tragenden Bewegungen und Organisationen zurückfließen.
Für einen eventuellen Wiederantritt bei der folgenden Wahl müssen erneut Key Performance Indicators festgelegt und kritisch gemessen und beurteilt werden. Eine radikalere Version ist das verbindliche Auflösen der Start-Up-Partei nach Ende der Legislaturperiode (als Default in der Satzung verankert).
Weiterhin besteht die Gefahr, dass sich die Abgeordneten von den tragenden Bewegungen und Organisationen entfernen und entfremden. Den Abgeordneten sollten daher hohe Transparenz- und Rechenschaftspflichten aufgelegt werden. Die Start-Up-Partei muss Prozesse anbieten, die die Verbindung zwischen Abgeordneten und tragenden Bewegungen und Organisationen sichern können und ggf. vermitteln. Die Amtszeit von Abgeordneten sollte durch einen Ethik-Kodex auf zwei Legislaturperioden begrenzt sein.
Kritik an Start-Up-Parteien
An Start-Up-Parteien lässt sich kritisieren, dass sie die Individualisierung und Spezialisierung der Gesellschaft weiter vorantreiben. Nachdem schon Kirchen, Gewerkschaften und Vereine als Orte und Gelegenheiten der Begegnung weggefallen sind, sorgen nun hochprofessionelle Start-Up-Parteien für noch mehr Orientierungslosigkeit. Klassische Parteien sorgen für Halt und Identifikation, die Sitzungen der Ortsvereine sind eine vertraute und verlässliche Heimat, in der Austausch über Klassenunterschiede hinweg stattfinden kann. In Start-Up-Parteien versammeln sich dagegen homogene Eliten. Diese Entwicklung treibt die Segregation unserer Gesellschaft weiter voran.
Man sollte sich allerdings fragen, inwiefern es sich bei dieser Kritik nicht um ein romantisiertes Idealbild von Parteien handelt. Von einem Ort, an dem Menschen verschiedener Hintergründe regelmäßig aufeinander treffen und sich austauschen, kann bei klassischen Parteien in der Realität keine Rede sein. Man kann sogar in Frage stellen, ob Parteitage oder die Stammtische der Orts- und Kreisverbände solche Orte je waren. Nur ein winziger Bruchteil der ohnehin schon wenigen Parteimitgliedern (in Deutschland sind nur 3 Prozent der Menschen in Parteien) nimmt solche Angebote wahr. Der gewünschte breite Austausch zwischen den Schichten findet also kaum statt.
Parteien, wie jede Organisation, müssen sich daher fragen, was ihr primärer Zweck, ihre Daseinsberechtigung, ist. Ist ihr primärer Zweck, demokratisch legitimiert politisch zu Handeln, um Veränderung zu erreichen? Oder ist es, Räume der Begegnung zu schaffen? Die Spitzen klassischer Parteien mussten sich schon vor Langem für ersteres entscheiden, um gegen die Macht spezialisierter Organisationen zu bestehen, allerdings ohne sich je zu dieser Entscheidung zu bekennen. Dementsprechend stiefmütterlich behandeln sie ihre Basis, was zu einer Entfremdung zwischen Parteispitzen und Basis führt. Die Praxis zeigt, das Parteien, die Wirksamkeit und Begegnung wollen, an beidem scheitern. Weder sind sie politisch Wirksam, noch fördern sie Austausch und Zusammenhalt in gesellschaftlich relevanten Größen. Am Ende sind alle enttäuscht: die, die Veränderungen wollen und die, die menschliche Wärme suchen.
Unsere Gesellschaft braucht neue Orte der Begegnung, des Zuhörens, des füreinander da sein. Oh boy, brauchen wir sie. Aber weder Parteitage noch Ortsverbände sind der richtige Ort dafür. Denn die beiden Ziele widersprechen sich. Die Aufgabe einer Partei ist politische Wirksamkeit. Eine große Gruppe von Menschen, deren eigentliches Bedürfnis nicht Wirksamkeit, sondern menschliche Wärme ist, hindert die Partei an der Erfüllung ihrer Aufgabe. Klassische Parteien ziehen eine Vielzahl an Menschen mit einer Vielzahl von Motiven an. Es ist ein Fehler zu glauben, dass Parteien all diesen Motiven Raum und Ressourcen geben müsste. Wer es versucht, scheitert unweigerlich an sich selbst.
Nach Wegfall der Kirchen, Gewerkschaften, Vereinen und Parteien ist es Aufgabe der neuen sozialen Bewegungen, Räume der Begegnung und der menschlichen Wärme zu schaffen. Die P.A.H. in Spanien zeigt, wie das funktionieren kann. Die Aufgabe von Start-Up-Parteien ist es dagegen, diese neu geschaffenen Räume durch demokratische Prozesse in die Politik einzubinden und sie zu repräsentieren. So findet eine Bindung an die breite Bevölkerung und eine demokratische Kontrolle der Start-Up-Parteien statt.
An Start-Up-Parteien lässt sich außerdem ein Demokratiedefizit kritisieren. Ist eine Bindung an soziale Bewegungen statt an Parteimitglieder nicht schwächer und willkürlich? Ist es nicht nur ein Manöver, sich einer quengelnden Basis zu entziehen und Macht für Wenige zu sichern?
Die Kritik kann durchaus berechtigt sein. Man sollte aber auch hier zunächst das ganze Bild betrachten. Unsere Vorstellung einer repräsentativen bottom-up Demokratie, in der die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung von Parteimitgliedern aufgenommen werden, dann heiß diskutiert und später über die Ebenen an die Spitzen und in die Parlamente gegeben werden, entspricht nicht der Wirklichkeit. In die Basis der klassischen Parteien hat sich eine Demokratielethargie eingeschlichen. Ernsthafte politische Diskussionen finden kaum statt – wozu auch, wissen die Mitglieder doch, dass ihre Stimme keinen Unterschied für eine Entscheidung machen wird.
Wer dagegen in relevante Entscheidungspositionen klassischer Parteien kommt, denkt schon so sehr in deren Logik, dass die Vorstellungskraft für radikale Veränderungen fehlt. Rebell*inn*en werden eingenordet oder diskreditiert. Das Ergebnis ist eine innerparteiliche Scheindemokratie; eine Demokratie, in der alles den demokratischen Grundsätzen entspricht, in der aber doch nur Wenige entscheiden und Veränderung kaum möglich ist. Undemokratischer als klassische Parteien sind Start-Up-Parteien also nicht, aber sind sie demokratischer?
Dafür sollte man betrachten, dass Start-Up-Parteien permanent nach Wegen und Systemen suchen, um Repräsentation zu verbessern. Es ist ihr Gründungsimpuls, Antrieb und Instinkt. Mitglieder von Start-Up-Parteien haben deshalb ein ausgeprägtes Bewusstsein für demokratische Prozesse. Sie haben weder Interesse an Macht um der Macht willen, noch möchten sie ihre Zeit damit verschwenden, eine weitere klassische Partei aufzubauen. Trotz einer mangelnden Kontrolle durch Parteimitglieder arbeiten Start-Up-Parteien also deutlich demokratischer und transparenter als klassische Parteien. Sie nutzen neue Technologien und Prozesse, um eine breite Beteiligung zu ermöglichen.
Um nicht alleine in das Gute der Parteimitglieder vertrauen zu müssen, geben die Träger einer Start-Up-Partei ihr bei der Gründung einige Regeln und Einschränkungen mit auf den Weg. Das sind zum Beispiel die institutionalisierte Öffnung demokratischer Prozesse für Nichtmitglieder, weitgehende Transparenzpflichten, ein Ethik-Kodex sowie Bedingungen für die Auflösung der Start-Up-Partei. Indem die Träger eine Marke lizenzieren oder finanzielle Unterstützung geben (indem sie zum Beispiel ihre Mitglieder zum Spenden auffordern) und damit drohen, beides wieder zu entziehen, können sie eine Start-Up-Partei an sich binden und bei einer Entfremdung auch verstoßen.
Start-Up-Parteien werden also zu den ausführenden Demokratiedienstleistern der tragendenBewegungen. Diese Verschiebung von Macht führt dazu, dass wir weniger ein mögliches Demokratiedefizit in den Start-Up-Parteien betrachten müssen, als bei den Trägern. Seit den Occupy Wallstreet-Protesten zeichnen sich moderne Bewegungen (und zunehmend auch Organisationen) durch dezentrale Strukturen und flache Hierarchien aus. Trotzdem entstehen (oft aus der Notwendigkeit heraus, Entscheidungen treffen zu müssen) informelle Machtkonzentrationen. Auch auf Druck der eigenen Mitglieder erproben daher Bewegungen und Organisationen neue Ansätze interner Demokratie. Wenn sich Macht weiter von Parteien hin zu Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen verschiebt, müssen diese Ansätze formalisiert und institutionalisiert werden.
Ein dritter Kritikpunkt ist eine mögliche Zersplitterung der Parlamente in eine Vielzahl kleiner Parteien (“Weimarisierung”). Vielmehr sollte man die bestehenden Parteien nutzen.
Diese Kritik verkennt jedoch die Erneuerungs- und Gestaltungsunfähigkeit klassischer Parteien. Unbedingt notwenige Reformen sind unmöglich – zu groß sind die Selbsterhaltungstriebe der bestehenden Strukturen. Klassische Parteien können daher bestenfalls Bestehendes verwalten, nicht jedoch Neues gestalten. Deshalb kommen Start-Up-Parteien in Spiel. Sie kommen ins Parlament, erfüllen ihre Mission und gehen wieder. Ihre Abgeordneten arbeiten fraktionsübergreifend. Sie sorgen damit für die Veränderung, die in vielen Bereichen so dringend notwendig ist, um unsere Gesellschaften nachhaltig und zukunftsfähig zu machen. Start-Up-Parteien zersplittern also nicht das Parlament, sie retten es.
Der Punkt zeigt aber auch, wie wichtig für Start-Up-Parteien die Fähigkeiten zur Bündnisbildung und zum Kompromiss sind. Mehrere Start-Up-Parteien, die mit ähnlichen Missionen und ähnlichen Werten gegeneinander antreten, sind absolut sinnlos. Ohne Bündnisse und Kompromisse würden sie, statt einem Gewinn für die Demokratie, tatsächlich zu einer Gefahr.
Start Me Up!
Unsere Gesellschaft steht vor riesigen Herausforderungen und im Moment versagen die klassischen Parteien auf ganzer Linie. Es gibt keinen Grund, warum sich das plötzlich ändern sollte. Die Frage ist also: Untergehen mit den klassischen Parteien oder rechtzeitig etwas neues wagen?
Es gibt diverse Gründe, warum Start-Up-Parteien nicht erfolgreich sein können. Zu wenige Ressourcen, zu wenig Reichweite und Bekanntheit, zu wenig Erfahrung, zwischenmenschliche Konflikte – die Liste ist lang. Aber es gibt auch Gründe, warum Start-Up-Parteien eben doch erfolgreich sein können. Sehr viele Menschen sehnen sich nach einer besseren politischen Repräsentation. Viele fähige Menschen suchen nach einem Ort, an dem sie politisch wirksam sein können, ohne ihre Seele verkaufen zu müssen. Das Wissen über bessere demokratische Prozesse wächst. Und in den wachsenden sozialen Bewegungen (Stop TTIP, Unteilbar, Hambi bleibt, Fridays For Future usw.) liegt ein enormes Mobilisierungspotential.
Start-Up-Parteien könnten somit eine mächtige Waffe sein für Bewegungen und Organisationen, die für sozialen und ökologischen Wandel kämpfen. Sie sind vielleicht kein Modell für die Ewigkeit, aber unabdingbar für dringenden und notwendigen Transformationen der realen Politik und des demokratischen Systems. Sie sind also ein weiterer emanzipatorischer Schritt hin zu freien und gleichen Individuen und Gesellschaften.
Letzte Kommentare