Die nachrichtenarme Zeit naht. Viele TV-Redaktionen haben schon ihre vielmonatige Sommerpause begonnen. Doch in Brüssel und Berlin drehen sie am Rad, als glaubten sie ernsthaft, eine Mehrheit interessiere sich dafür. Irrtum. Sie wird abgestossen.
Es war eine erfreuliche Überraschung, dass bei der Wahl des EU-Parlaments eine gestiegene Wahlbeteiligung zu registrieren war. In Deutschland von grottenschlechten 48 (2014) auf bescheidene 61,4%, 4% weniger, als bei der ersten 1979, als das EU-Parlament wesentlich weniger Befugnisse hatte. Mann ist bescheiden geworden, denn auch der Bundestag kommt nicht mehr über 80% Wahlbeteiligung. Die Gruppe der Nichtwähler*innen ist grösser, als die irgendeiner Partei.
Auf diesem Hintergrund sollten weder Politiker*innen noch was-mit-Medien-Leute, die von deren Gewese leben, glauben, dass die Mehrheit der Öffentlichkeit ein vertieftes Interesse an ihren Intrigenspielen und Personaldebatten hat. Hat sie nicht. Im Gegenteil. Der Eindruck herrscht vor, dass gut dotierte Aufwandsentschädigungen dafür eingesetzt werden, dass die Damen und Herren um sich selbst kreisen – statt ihre Arbeit zu machen.
Selbst die derzeit demoskopisch oben schwimmenden Grünen, ebenso der von mir geschätzte Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen, unterliegen einem schweren Irrtum, wenn sie glauben, dass das “Spitzenkandidaten”-Gerede (die Mehrheit kannte die überhaupt nicht), und die Frage, wer von den Streithanseln EU-Parlament, Kommission und “Europäischer Rat” (fragen Sie mal auf der Strasse, wer weiss, was das ist!), welche Befugnisse behalten oder bekommen soll, würde das Leben irgendeiner oder -eines Bürgerin oder Bürgers betreffen. Dass die SPD sich über alldem jetzt ein Ei aufschlägt, und die siebzehnte Koalitionsdebatte darüber anfängt (Gabriel, ausgerechnet! wer sonst?), sagt vor allem alles über ihren eigenen Zustand. Einzige Stimme der Vernunft, die ich gefunden habe, ist die meines ehemaligen Studentenparlamentswählers Josef Janning.
Warum wohl hat Julia Reda – das wäre mal eine EU-Kommissarin! – das Weite gesucht, Axel Voss aber gerade nicht?
Es gäbe einiges, um das die in Brüssel sich kümmern könnten. An erster Stelle das skandalöse Freihandelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten. Die Rettung der Ertrinkenden im Mittelmeer. Neue sozial und ökologisch gerechte Freihandelsabkommen mit Afrika (“Fluchtursachenbekämpfung”, heuchel …), Verteidigung der Demokratie gegen Despoten innerhalb der EU, Bekämpfung der EU-eigenen Steueroasen, ökologische Wende der Agrarsubventionen (grösster Posten des EU-Haushalts!), Ausbremsen der EU-Militarisierung und Rüstungsexporte an Verbrecher (gute Gelegenheit für alle, die ernsthaft gegen Flinten-Uschi opponieren wollen!) … es gäbe so viel zu tun. Es würde Euch wirklich wichtig machen. Die meisten von Euch: erstmals.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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