Der Krieg der Türkei gegen die Kurden im benachbarten Syrien ist ein eindeutiger Verstoß gegen das in Artikel 2.4 der UNO-Charta verankerte Gewaltverbot und damit ein schwerwiegender Bruch des Völkerrecht. Das Recht auf militärische Selbstverteidigung aus Artikel 51 der Charta kann die Regierung Erdogan nicht für sich reklamieren, denn die Türkei wurde nicht angegriffen. Es drohte nicht einmal ein militärischer Angriff- weder unmittelbar noch mittelbar – den es präventiv oder präemptiv zu verhindern galt.
Daher muß zur Rechtfertigung die Behauptung einer angeblichen „terroristischen Bedrohung“ herhalten, den man durch Krieg „beseitigen“ wolle. Mit dieser willkürlichen Behauptung haben seit Beginn des globalen „Krieges gegen den Terrorismus“, den die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgerufen hatten, schon eine Reihe von Regierungen versucht, völkerrechtswidrige militärische Interventionen sowie Folter und andere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen.
Auch im konkreten Fall hält die Behauptung einer „terroristischen Bedrohung“ einer Überprüfung nicht stand. Die Volkverteidigungseinheiten (YPG) haben sich auf den Aufbau und die Verteidigung der Selbstverwaltung in den kurdischen Region Syriens beschränkt. In den letzten vier Jahren waren sie zudem wichtigster und effektivster Verbündeter der USA bei der Bekämpfung und Vertreibung der Terrororganisatioen „Islamischer Staat“ (IS). Einer Terrororganisation, die von der Regierung Erdogan zumindest in den ersten Jahren des seit Frühjahr 2011 währenden Syrienkonflikts logistisch sowie mit Waffen und Öllieferungen unterstützt wurde. Das macht die Rechtfertigung Erdogans für den Krieg gegen die YPG besonders verlogen.
Doch selbst, wenn Erdogans Behauptung von der „terroristischen Bedrohung“ durch die YPG zutreffen würde: sein Krieg wird kontraproduktiv wirken, und die „terroristische Bedrohung“ in mehrfacher Hinsicht eher verstärken. Für die Türkei und ihre Nachbarländer im Nahen und Mittleren Osten sowie weltweit. Zum Einen ist damit zu rechnen, dass die YPG im Laufe des eskalierenden Krieges mit der Türkei schon bald die Hafteinrichtungen mit rund 12.000 IS-Kämpfern nebst Familienangehörigen, die sie in den letzten vier Jahren festgenommen hatten, nicht mehr bewachen und kontrollieren können. Dann werden die IS-Kämpfer in Syrien und den Nachbarländern oder auch in Europa untertauchen und dort möglicherweise terroristische Anschläge verüben.
Zum Zweiten wird Erdogans Krieg zu einer Radikalisierung und damit möglicherweise wachsenden Gewaltbereitschaft unter den Kurden führen – sowohl in ihren historischen Siedlungsgebieten in Syrien, der Türkei, Irak und Iran wie auch in der kurdischen Diaspora in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Die Forderung nach einem eigenen Staat, der ihnen vor 100 Jahren von den damaligen Kolonialmächten Frankreich und Grossbritannien versprochen wurde, dürfte wieder lauter und die Alternative eines weitgehenden Autonomiemodell, wie es seit 1991 im Nordirak existiert, von den Kurden in Nordsyrien bislang angestrebt wurde und auch für die Südosttürkei eine vorstellbare Lösung wäre, an Unterstützung verlieren.
Auch die neue Flüchtlingsbewegung innerhalb Syriens sowie in die Nachbarländer und bis nach Europa, die Erdogan mit diesem Krieg auslöst, hat destabilisierende Folgen. Geradezu zu einem Nährboden von Verzweiflung, Radikalisierung , Extremismus und Gewaltbereitschaft könnte die „Sicherheitszone“ in den bisherigen kurdischen Region in Nordsyrien werden, in der nach Erdogans Plänen künftig die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei leben sollen – bewacht von türkischen Soldaten. Ob es zu dieser „Sicherheitszone“ kommt und damit auf unbestimmte Dauer zu einer Präsenz türkischer Truppen auf syrischem Territorium, hängt allerdings auch vom Verhalten der Regierung Assad in Damaskus ab. Bis zum Redaktionsschluss dieses Kommentars hat sie sich noch nicht einmal zu der völkerrechtswidrigen Invasion durch den Nachbarn Türkei geäußert. Wird Assad die kurdischen StaatsbürgerInnen seines Landes im Stich lassen und ihre Vertreibung zulassen? Oder wird er sie militärisch gegen die Invasoren unterstützen, was zu einem offenen Krieg zwischen Syrien und der Türkei führen könnte?
Was das größere Übel wäre, fällt schwer zu entscheiden.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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