Das Erste, was im Krieg stirbt, ist die Wahrheit. Eine alte Volksweisheit. Noch weniger, als was tatsächlich militärisch passiert, wird der Öffentlichkeit die Wahrheit über die in einem Krieg verfolgten Interessen verraten. Immer gibt es welche, die auf beiden Seiten dabei sind, z.B. die Rüstungslieferanten. Darin sind neben den USA Grossbritannien, Frankreich und Deutschland ganz gross. Folgerichtig wird auch der Frankreich-und-Deutschland-Link in einigen Tagen in einem Paywallarchiv verschwinden.
Der in der Regel streng realoorientiert gegen den deutschen Medienstrich bürstende Michael Lüders meinte nun, in Recep T. Erdogan einen besonders cleveren Machiavellisten zu erkennen. Das ist noch die Frage. Thomas Pany/telepolis insinuiert eher, dass er an einer Inszenierung im Auftrag Russlands mitwirkt. Erdogan brauchte ein Szenario, das die innenpolitische Gefährdung seiner Macht kontert. Das hat er von Russland und Syrien bekommen. Dafür werden am Ende sie die wesentlichen Teile der Kurd*inn*engebiete kontrollieren- Erdogan musste für sie die Rolle des Bösewichts übernehmen; es passte super in sein innenpolitisches Strategieszenario, in dem er die kemalistische CHP wieder in seinen Sack stecken konnte. Hier ein Bericht von Jürgen Gottschlich/taz zu den aktuellen Kriegshandlungen.
Dieses Geschehen stellt auch Fragen die Weisheit der politischen Organisationen der kurdischen Opfer. Laut Lüders haben sie sich zum achten Mal von den USA verarschen lassen. In den letzten Jahrzehnten hätten zahlreiche Gelegenheiten bestanden, an mehr politischen Bündnisoptionen zu arbeiten. Allein der sektiererische Aktionismus der kurdischen Exilorganisationen in Deutschland, die gerne gegenseitig konkurrierten und sich bekämpften, sich aber kaum der Mühe unterzogen, die politischen Diskurse am Ort ihres Exils angemessen zu analysieren und daraus erfolgversprechendere – für die Marxist*inn*en unter ihnen: internationalistische! – Strategien abzuleiten, verrät, wie ihr beständiger historischer Misserfolg zustande gekommen sein könnte. Es ist nicht immer alles der Feind schuld. Wer weiss, dass der böse ist, muss für seine Gegenwehr die richtigen Schlüsse ziehen, und nicht die falschen.
In seiner Schlauheit wahrlich schon bewundernswert dagegen der Boss des russischen Regimes. Er regiert eine Atommacht, die er von seinen realsozialistischen Vorgängern geerbt hat, und seitdem beständig weiterentwickelt. Das macht ihn mächtig. Wenn wir aber berücksichtigen, dass sein Land mit riesiger Fläche ökonomisch nicht mehr als ein Zwergstaat ist – das Bruttoinlandsprodukt ist kleiner als halb so gross wie das deutsche, und nur ungefähr ein Zehntel der EU! – und was er diesen Riesen (ganz zu schweigen von dem Versager im Weissen Haus) an aussenpolitischer Cleverness voraus hat, da kann jeder intelligenzbegabte Mensch nur Respekt empfinden. “Gute Beziehungen” zu Assad, zu Erdogan, zu Netanyahu, zu MBS und MBZ, zu Khamenei und Rohani, zu Xi Jinping und Modi. Der Kerl und sein Regime verfügen über Analysen der beteiligten Interessen und managen sie im Interesse Russlands.
Das wäre exakt das, was wir auch von unserer Bundesregierung erwarten müssten. Die schafft das aber nicht, noch nicht einmal in der EU, noch nicht einmal bilateral mit Frankreich. Ein Strohhalm vielleicht: die Brit*inn*en bleiben bei uns in der EU, und wählen als nächste Regierung Labour (oder eine Koalition von denen mit den Libdems). Bei denen hätte ich noch Hoffnung, dass die aussenpolitisches Handwerk beherrschen – selbst der irre Johnson spielt mit der EU, als wenn es ihm Spass macht. Er ist dabei nur so besoffen, dass es enden würde, wie bei Trump.
Oder wie würde es mit einer Grünen-Bundesregierung?
Hoffnung nicht aufgeben, Lösungen suchen! Auch das Weltklima ist nur zu retten mit guten Beziehungen zu anderen Regierungen. Die überwiegend von Despoten geführt werden. Eine schwere Prüfung für gute Aussenpolitik. Durchfallen ist keine Option.
Update vormittags: Lesen (oder hören) Sie dazu auch das DLF-Interview mit Jürgen Trittin von heute morgen.
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