Zum wiederholten Mal haben hessische Polizisten unter dem Label “NSU 2.0” mit “Heil Hitler” und “Obersturmbannführer” Bedrohungen gegen Menschen ausgesprochen. Zuerst gegen die Anwältin Seda Başay-Yıldız, Nebenklägerin im NSU-Verfahren, im Juli gegen die Vorsitzende der Linken im Hessischen Landtag Janine Wissler, sowie ihre Kollegin Anne Helm in Berlin und vorgestern gegen die Berliner Kabarettistin Idil Baydar; und schon lange wird Martina Renner, linke Bundestagsabgeordnete, die sich strikt gegen Rechts einsetzt, unter diesem Kürzel bedroht. Dieselben Behörden, das hessische LKA, die bei der Aufklärung des Mordes an Walter Lübke noch gute Arbeit geleistet zu haben scheinen, versagen seit rund drei Jahren bei der Aufklärung von neonazistischen Netzwerken und Kriminellen in den Reihen der hessischen Polizei. Die Affäre scheint langsam aber sicher über Hessen hinaus zu gehen.

Seit fast drei Jahren wird nun nach den Übeltätern der “NSU 2.0” gesucht, und es gibt bis heute kein Ergebnis. Wer sich ein bisschen in Computersystemen der öffentlichen Hand auskennt, dem ist bekannt, dass es persönlicher Passwörter bedarf, um Zugang zum System zu finden. Warum wird deshalb gegen einen Polizeibeamten, von dessen Computer aus die Abrufe 2019 getätigt worden sind, nur als Zeuge ermittelt? Das hat, so erklärt dies ein Fachmann, mit den polizeispezifischen Sonderregeln zu tun, dass ständig in Wachen eine bestimmte Anzahl Computer betriebsbereit gehalten wird, um schnell auf Fahndungsdateien zugreifen zu können. Da ist es durchaus möglich, dass sich der eine Kollege einloggt, aufs Klo muss, und ein anderer unbemerkt derweil unter dessen Anmeldung recherchiert. Aber solche trivialen Situationen können durch einfache technische Maßnahmen ausgeschlossen werden – etwa durch die Einrichtung von Fingerabdruckscannern. Dafür hätte der derzeitige hessische Innenminister schon mindestens eineinhalb Jahre Zeit gehabt.

Vieles an der derzeitigen Situation deutet darauf hin, dass es am Willen zur Aufklärung in den eigenen Reihen der Polizei mangelt – also sollte die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernehmen. Wer die Diktion einer terroristischen Vereinigung übernimmt, und unter “NSU 2.0” Straftaten begeht, macht sich ggf. nach § 129a strafbar, und das begründet formal eine Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft. Der CDU-Innenminister, so heisst es nun aus der Opposition in Wiesbaden, habe mit der Entlassung des obersten “Trachtenträgers” und Landespolizeichefs vom eigenen Versagen ablenken wollen. Da ist politisch wohl eine Menge dran, ist doch seit den Drohungen gegen die Anwältin der Nebenkläger im NSU-Verfahren vor zwei Jahren nichts Nennenwertes passiert. Dass der Grüne Koalitionspartner zu all diesen skandalösen Vorgängen nicht nur schweigt, sondern offensichtlich ebenfalls mit Untätigkeit reagiert, ist ein Teil des politischen Skandals in Hessen.

Die Grünen, die mit dem ehemaligen Justizminister Rupert von Plottnitz einst eine rechtsstaatliche Politik verfolgten, tauchen zur Frage des Rechtsextremismus in der Polizei ebenso ab, wie zu Fragen des Verfassungsschutzes. So haben sie als Koalitionspartner mit zu verantworten, dass die Akten der völlig unglaubwürdigen Vorgänge um die NSU-Morde in einem Internetcafe, bei dem ein Verfassungsschützer anwesend war, aber nichts bemerkt haben will, für 150 Jahre gesperrt wurden – ein einmaliger Vorgang in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auch zu den aktuellen Fällen von organisiertem Rassismus und rechtsextremistischem Netzwerk in der Polizei ist nach wie vor kein Wort zu lesen. Inzwischen erfährt die Öffentlichkeit über mögliche Täterpersönlichkeiten und Zusammenhänge mehr aus der Zeitung, in diesem Falle der “Zeit”, mehr qualifiziertes, als von den verantwortlichen Behörden. Dabei kommt zutage, dass der oder die Täter offensichtlich ausschließlich Frauen bedrohen, und dies zum Teil mit ekelhaften Vergewaltigungsandrohungen versehen. Typisch ist auch, dass sie Detailwissen präsentieren oder verwenden, das sie nur aus vertraulichen Informationen der Polizeicomputer haben können.

Die Betroffenen äußerten inzwischen mehrfach, dass sie sich von der eigentlich für ihren Schutz zuständigen Polizei bedroht fühlen. Die bisherige Reaktion auf diesen an sich schon ungeheuerlichen Tatbestand ist unangemessen. Die Einsetzung eines “Sonderermittlers”, der auch noch aus der hessischen Polizei stammt, kann wirklich nur als Ablenkungsmanöver verstanden werden. Dass die Bundesanwaltschaft bisher von sich aus keinen Grund sieht, den Fall an sich zu ziehen, kann nicht beruhigen. Wenn seit über zweieinhalb Jahren solche Vorkommnisse auf die Polizei eines Bundeslandes zurückgehen, und der zuständige Innenminister offensichtlich nicht in der Lage ist, die Verhältnisse in seinem Verantwortungsbereich aufzuklären, Justiz bzw. Staatsanwaltschaft ins Leere laufen, müssen sich auch die Grünen fragen lassen, was sie in der Landesregierung unternommen haben, um diesen Zustand zu ändern. Aber von denen kommt nichts. Dass sich früher oder später die Frage nach der politischen Mitverantwortung und damit die Koalitionsfrage stellt, scheinen sie noch nicht erkannt zu haben. Dabei hätten sie von ihren Kollegen aus NRW 2015-2017 lernen können, was es bedeutet, einen unfähigen Innenminister in der Landesregierung ungeschoren zu lassen und untätig zu bleiben.

Was wäre wohl, wenn in Hessen ständig giftige Chemieabwässer in den Rhein geleitet würden, aber die Umweltministerin die Verursacher nicht feststellen könnte? Zweifellos würde dies vom Koalitionspartner CDU nicht unbeachtet bleiben. Überregional bisher nicht bemerkt, stellen die Grünen mit Kai Klose gegenwärtig in der Landesregierung den Minister für Soziales und – sage und schreibe – Integration. Es ist schon mehr als befremdlich, wenn der gelernte grüne Jurist zu den offensichtlich rassistischen und sexistischen Bedrohungen bisher in der Öffentlichkeit kein Sterbenswörtchen verloren hat. Die Grünen scheinen die gesamte Affäre, die das Land Hessen in der Kernfrage des Vertrauens in rechtsstaatiches Handeln der Polizei und der Justiz betrifft, bisher aussitzen und der Alleinverantwortung der CDU-Minister überlassen zu wollen. Ein fahrlässiges Spiel mit dem Feuer, das über Hessen hinaus das Vertrauen der Wähler*innen in die Grünen in einem ihrer politischen Kernbereiche, der klaren Haltung gegenüber Rechts und in den Stellenwert der Rechtsstaatlichkeit schneller erschüttern könnte, als die Inhaber vermeintlich bequemer Regierungssessel sich in Wiesbaden träumen lassen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net