mit Update 18.9.
Wenn ich mich heute über einen Artikel des General-Anzeigers besonders ärgerte, liegt es nicht in erster Linie an seinem Inhalt, als an einem Ärger meinerseits, der sich über Jahrzehnte aufgestaut und auch noch kein Löchlein zum Entlastungsabfluss gefunden hat. Es ist der Ärger über den Grundrechtsentzug der Millionen unserer Mitbürger*innen, die mit uns zusammenleben, aber keine EU-Staatsbürgerschaft besitzen. Die grösste davon betroffene Gruppe sind die Türkinnen und Türken, die noch keine deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben.
SPD und CDU konnten sich, insbesondere wenn sie eine entsprechende Mehrheitsposition hatten, im Landtag NRW nie entschliessen, diesen Menschen das Wahlrecht zu geben. Die Grünen NRW hatten es lange im Programm, haben aber nie wirklich dafür gekämpft. Nicht unwahrscheinlich, dass der NRW-Verfassungsgerichtshof, von ebendiesen Parteien benannt, einem entsprechenden Gesetzentwurf schnell wieder ein Garaus bereitet hätte. Darum entstand in der NRW-Gemeindeordnung die Missgeburt “Integrationsrat” (§27), so eine Art Puppenstube für die kindischen Ausländer*innen. Nichts anderes ist es in der Praxis auch geworden – und geblieben.
Denn siehe, die Mehrheit der Menschen ohne Wahlrecht ist gar nicht dumm genug, an der Wahl so eines Blödsinns teilzunehmen. Sie durchschauen das rassistische deutsche Manöver und verzichten grusslos auf das lieb- und empathielose Geschenk. Gewählt werden solche Persönlichkeiten, die nichts Besseres gefunden haben, um ihre Zeit zu verbringen, gerne mal abends nicht zuhause sind, und mit einer Simulation von Bedeutung zufrieden zu stellen.
Ich schreibe das hier so wütend, weil ich niemandem mehr zu irgendwas verpflichtet bin. Seit vier Jahren bin ich aus meinem Politjob raus, beziehe eine sparsame Rente und geniesse meine damit verbundene Freiheit. Ich bekenne: ich habe in 10 Jahren, obwohl (oder weil!) ich dafür zuständig war, an keiner einzigen Integrationsratssitzung teilgenommen. Sehr wohl habe ich aber geduldig die fast ebenso langen Klagen gewählter Mitglieder angehört, die daran teilgenommen haben, weil sie meinten, sie müssten es.
Freund*inn*en mit Migrationshintergrund habe ich immer von einer Kandidatur für diese kräftezehrende Zeitverschwendung abgeraten. Wenn Sie sich ernsthaft zu grösserem politischen Engagement entschliessen wollen, sollen sie für den Stadtrat, oder wenigstens als sachkundige Bürger*in für einen “richtigen” Fachausschuss kandidieren – da wo die Entscheidungen fallen.
Nur selten ist es mir gelungen, solche Persönlichkeiten zu überzeugen. 2014 gelangte Constanza Paetau, langjährige Vorsitzende des Internationalen Frauenzentrums (IFZ) auf einen nicht ganz schlechten Grünen Listenplatz. Es reichte aber nicht. Und wenn es das getan hätte, hätte sie aufgrund ihres kranken Vaters in Bogota das Handtuch werfen müssen. Viele andere haben aus ähnlichen Gründen schon von vorneherein abgewunken. Ich will aber auch nicht verhehlen: ich hatte nicht das Gefühl, dass sich viele weitere Grüne ähnlich bemüht haben; die meisten waren zu sehr mit einer eigenen Kandidatur beschäftigt.
Da liegt nämlich der Hase im Pfeffer, und zwar in allen Parteien. Zuerst kommt das Ich, und dann erstmal lange gar nichts. Wenn ich hier vorwiegend über die Grünen schimpfe, dann nur, weil ich über sie am meisten weiss. Und weil sie – ganz ohne Zufall – seit Sonntag die wichtigste Partei in Bonn sind.
Das Wahlergebnis von Sonntag verrät, wie repräsentativ sie für unsere Gesellschaft, ihre Heucheleien und Widersprüche sind. 16 ihrer 18 Ratsmitglieder wurden durch den Gewinn ihres Direktwahlkreises gewählt. Dadurch ist ihre Ratsfraktion nicht geschlechterquotiert, sondern nur eine Karikatur davon: die Männer haben eine Zweidrittelmehrheit. Migrationshintergrund? Joo, Katja Dörner ist aus dem Westerwald, Annette Standop aus Österreich, so wie ich z.B. aus dem Ruhrgebiet – alle sind wir eingewandert, alles eine ganz “andere Kultur”. Nihat Mert, Direktkandidat in Tannenbusch, kurdischer Migrationshintergrund, von dessen politischer und persönlicher Integrität ich mich persönlich überzeugen konnte, ist der sagenhafte 9. Nachrücker der Grünen, falls es Rücktritte wg. Krankheit, Wegzug o. ähnl. geben sollte (noch nie habe ich erlebt, dass jemand sein Mandat bei einem Parteiwechsel freiwillig abgab!).
Die weissen Männer sind halt immer noch die Cleversten, wenn es um die Eroberung auch nur von geringfügiger Macht geht, wie sie z.B. ein mickriges Stadtratsmandat darstellt.
Da ist es schon eine positive Überraschung und ein weiterer Beweis für die Klugheit derer, die wählen, dass ein Erdogan-U-Boot wie BIG mit seiner migrantischen Verkleidung durchschaut wird, und ein Wahlergebnis einfährt, das seinen politischen Ziehvätern in der Türkei auch dringend zu wünschen wäre.

Eine Aufgabe für die OB

Aber wie wäre Vertrauen bei den desillusionierten Menschen mit Einwanderungsgeschichte wieder herzustellen? Ein Beispiel: seit Coletta Manemann ihren Job als Integrationsbeauftragte der Stadt Bonn angetreten hatte, wurde als erster – kostenloser! – Schritt in alle Stellenausschreibungen der Stadt ein ermunternder Satz eingefügt, dass sie sich über solche Bewerbungen freuen würde. Seitdem steht er da.
Ich habe aber noch von keinem Oberbürgermeister gehört, der in Stadtteile und Schulen gegangen wäre, um die Jugendlichen persönlich zu ermuntern und anzuschieben: versucht es! Tut es! Ich sorge persönlich dafür, dass ihr eine faire Chance bekommt.
Es ist selten genug, dass die verschuldete Stadt überhaupt Stellen extern ausschreiben kann. Deswegen wird es auf diese Weise viele Jahrhunderte dauern, bis sie ein repräsentatives Abbild der Bevölkerung unserer Stadt darstellen kann. Eine Verwaltung, die die Lebenswirklichkeit ihrer Bürger*innen in ihrer Gegensätzlichkeit und Verschiedenheit (“Diversität”) nur aus Medien kennt, kann nicht angemessen qualifiziert arbeiten, oder gar, das wäre der Gipfel, ihrer Bevölkerung “dienen”. Wie lange soll diese Zuspitzung von Lächerlichkeit und Vorgestrigkeit erhalten bleiben?
Einen “Integrationsrat” können sie sich sonstwohin schieben.
Wenns Ihnen bis hierher noch nicht reicht, lesen Sie bei Margarete Stokowski/Sp-on, wie professionelle Heuchelei in der politischen Klasse funktioniert.
Update 18.9.: aus dem Umfeld des Bonner “Integrationsrates” höre ich von einer weltweit auftretenden Männerpandemie (Donald Trump hat es bekanntlich auch): ein Mann, der nicht gewählt wurde, spaltet diese Tatsache von seiner Persönlichkeit ab, tut so, als gehe das Leben nach einer Wahl genauso weiter, wie vor der Wahl. Wie gewohnt terrorisiert er Frauen, und zwar solche, die im Gegensatz zu ihm gewählt sind, direkt oder am Telefon, um ihnen politische Befehle und Anweisungen zu erteilen. Angesichts dieses Massenphänomens frage ich mich, warum es zwar Frauen-, aber immer noch keine Männerärzte gibt. Müssen solche Männer zum Urologen? Jedenfalls brauchen sie professionelle Hilfe.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net