Interview mit dem brasilianischen Schriftsteller Luiz Ruffato, von Lutz Taufer und Anselm Weidner
Luiz Ruffato gilt heute als einer der wichtigsten, vielleicht der wichtigste Schriftsteller Brasiliens. Anders als die meisten brasilianischen Intellektuellen und Autor*innen entstammt er nicht den traditionellen Eliten, sondern pflegt eine deutliche Distanz zu diesen. Er steht in seinen Büchern wie in seinen politischen Stellungnahmen für einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel, seziert die herrschenden Strukturen aus dem Blickwinkel der Mehrheit der Brasilianer*innen. Dabei ist ihm jegliche Sozialromantik fremd, die Armen und Entrechteten sind mitnichten „gut“, sondern reproduzieren die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse in ihrem sozialen Umfeld und ihren Familien. Lutz Taufer und Anselm Weidner trafen den Autor im März, als die Corona-Pandemie gerade begann, die in Brasilien – unter anderem wegen der ignoranten Haltung des Präsidenten Bolsonaro – schon mehr als 150.000 Todesopfer gefordert hat.
Am 19. März 1964 gab es in São Paulo eine große Demonstration unter dem Motto „Marsch der Familien mit Gott für die Freiheit“. Wenige Tage später putschten die Militärs. Wiederholt sich diese Geschichte?
Heute muss man ein paar andere Komponenten berücksichtigen: die Corona-Pandemie, dann die ökonomische Destabilisierung. Letzte Woche stürzte die Börse ab, es gab einen weltweiten Börsensturz. China, der große globale Wirtschaftsmotor, ist seit drei Monaten zum Stillstand gekommen, und jetzt sehen wir, wie die europäischen Länder zumachen, dies ist, aus wirtschaftlicher Sicht, eine Tragödie für alle Länder, vor allem aber für arme Länder wie Brasilien. Diese Lage wird dadurch verschärft, dass wir heute eine absolut inkompetente Regierung haben, die nicht mit der Situation umgehen kann, weshalb wir in Bälde wahrscheinlich mit zunehmender Inflation, wachsender Arbeitslosigkeit, einem Chaos im Gesundheitssystem rechnen müssen, und all das wird vermutlich zu autoritärem Regieren führen, nicht nur in Brasilien, sondern weltweit.
Bolsonaro hat seine Anhänger*innen dazu aufgerufen, gegen den Kongress und den Obersten Gerichtshof zu demonstrieren. Glaubst du, dass dies auf einen Militärputsch hinausläuft?
Es ist schwierig, in die Zukunft zu schauen, aber die Gesellschaft ist krank, Brasilien ist krank. Das Land ist in zwei Teile gespalten, die eine Seite will einen zivilen oder militärischen Putsch, die andere Seite strebt demokratische Kontinuität an. Letztere ist aber sehr zersplittert. Wie sich das entwickeln wird, ist schwer zu sagen, Historisch haben Macht und Gewalt immer über den guten Willen der Linken gesiegt. Die Aussichten sind nicht angenehm.
Bolsonaro ist kein isoliert agierender Politiker. Wen repräsentiert er?
Die Härte, die er zeigt, ist er selbst, er vertritt keine Ideologie. Aber hinter seinem Regieren steht ohne Zweifel ein großer Teil der Bevölkerung, er ist stark verankert in einem faschistischen Teil der Mittelklasse. Ein anderer Teil der Mittelklasse ist links. Bolsonaro ist stark verankert in einer christlichen Fundamentalbewegung, 30 Prozent der Brasilianer sind das, aber nicht alle Fundamentalist*innen unterstützen Bolsonaro. Weiter unterstützt ihn der Teil der Gesellschaft, sowohl Arme als auch Reiche, der nicht mehr an die Politik zur Lösung der Probleme glaubt, und schließlich rechte ideologische Gruppen, die Kundgebungen pro-Bolsonaro organisieren. Das alles ist um Bolsonaro gruppiert, doch er vertritt niemanden explizit. Seine Politik ist aber durchaus repräsentativ für die genannten Sektoren.
Steht diese Regierung einheitlich zusammen?
Es ist schwer, hier von einer Regierung zu sprechen. Eine Regierung in einem demokratischen System besteht aus Allianzen, aus unterschiedlichen Parteien, die sich in eine Richtung bewegen. Bei Bolsonaro war es erst lange eine ideologische Komponente, die für einen gewissen Zusammenhalt sorgte. Dafür steht der sogenannte Philosoph Olavo de Carvalho. Aber nach und nach orientierte sich Bolsonaro immer mehr auf die Militärs, heute gibt es in dieser Regierung mehr Militärs als in der Militärdiktatur. Aber nicht alle Militärs unterstützen Bolsonaro. Heute ist die Regierung Bolsonaro komplett militarisiert.
Einer der Generäle, die in der Regierung sind, rief in Richtung Kongress: „Fickt euch!“
Bolsonaro hat sich mit den Militärs zusammengetan, um seine Macht abzusichern. Aber wann immer dieser Versuch unternommen wurde, nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika, gingen solche Bündnisse ziviler Regierungen mit den Militärs schief. Sie endeten immer in Militärdiktaturen. Nie ist daraus etwas Positives erwachsen. Die Allianz Bolsonaros mit den Militärs ist sehr charakteristisch. Viele Journalist*innen glauben, dass die Pandemie diese Regierung schwächen wird, aber real geschieht das Gegenteil. Tatsächlich läuft die Lösung solcher Notsituationen immer auf Zentralisierung hinaus, und das bedeutet Autoritarismus. Corona wird den autoritären Diskurs von Bolsonaro stärken. Das heißt nicht, dass er an der Macht bleiben wird – ich glaube, er ist sehr schwach.
Brasilien ist gekennzeichnet von einer unglaublichen Kluft zwischen den Nachkommen der Sklav*innen, die in tausenden Favelas leben, und der Elite. Die Regierung von Lula (Lula da Silva – brasilianischer Präsident 2003-2011 – die Red.) hat sich darum bemüht, Brücken über diese Kluft zu bauen.
Lula stand an der Spitze der besten Regierung, die Brasilien je hatte. Gleichzeitig wird sie scharf kritisiert. Einige Aktivitäten der Regierung Lula waren extrem wichtig, so zum Beispiel die Schaffung der Sozialhilfeprogramme, die bolsas. Aber Lula schuf Transferleistungen statt Einkommensumverteilung, wie es eine linke Regierung eigentlich hätte tun müssen. Dazu aber fehlte ihm der Mut. Die Regierung nahm einen Teil des Haushalts und gab ihn den Armen. Das ist etwas anderes als Umverteilung. Dennoch war es absolut korrekt. Es war unglaublich wichtig, vielleicht weltweit einmalig, um 32 Millionen aus der extremen Armut zu holen. Das war wichtig, extrem wichtig!
Zweiter Punkt: die Quote (welche Schwarzen, Indigenen und den Angehörigen anderer diskriminierter Minderheiten eine gewisse Zahl an Studienplätzen und Jobs in der öffentlichen Verwaltung garantierte – die Red.). Auch das war ein enorm wichtiger Schritt gegen die rassistische und soziale Diskriminierung im öffentlichen Bildungssystem und in den öffentlichen Einrichtungen. Ich sage wiederum: extrem wichtig. Dennoch hätte eine Linksregierung Maßnahmen zur Verbesserung der Primarstufe (des öffentlichen Schulwesens – die Red.) umsetzen müssen, damit die Kinder im Anschluss danach an die Uni können.
Punkt drei: Lula wurde nur gewählt, weil er eine Allianz mit den Evangelikalen eingegangen war. Damit hat er die Evangelikalen zu dem gemacht, was sie heute sind. Er stärkte ihre Macht in den Medien, im Parlament, im Kongress usw.
Und ein weiterer Punkt: Als Lula die Kaufkraft der ärmsten Bevölkerung erhöhte, schufen wir ein Heer von Konsument*innen, aber wir schufen keine Bürger*innen. Die waren solange an dieser Regierung interessiert, solange sie ihren Konsum sicherstellte. Als dann die Krise kam, waren viele von denen, die in der Ära Lula aus der extremen Armut kamen, die heftigsten Gegner der PT (Arbeiterpartei). Lula hat es versäumt, die grundlegenden Bedingungen für wichtige Veränderungen zu schaffen. Dennoch war seine Regierung, ich wiederhole es, die beste Regierung, die Brasilien je hatte.
Glaubst du, es wäre möglich gewesen, eine Regierung ohne Annäherung an die Evangelikalen zu bilden?
Es ist einfach, das Vergangene zu kritisieren. Wir sehen klar Gründe, weshalb Lula zum Präsidenten gewählt wurde. Die PT kommt unter anderem aus der katholischen Basisbewegung, die aus der früheren links-katholischen Bewegung kam, die die Basisarbeit mit den Armen gemacht hat. Lula ist in dieser Bewegung groß geworden. Aber als Johannes Paul II. Papst wurde, hat er die Theologie der Befreiung zerstört. Die katholische Kirche verlor damit eine Basis, auf der sie mit den Armen in der Peripherie, in den Favelas und auf dem Land gearbeitet hatte. Damit ging eine wichtige Verbindung verloren. Und wer macht diese Arbeit heute? Nicht mehr die katholische Kirche, sondern die Evangelikalen.
Favela heute, das ist narcotráfico (Drogenhandel – die Red.) und Evangelikale. Als Lula die Verbindung mit der vormals katholischen Basis verloren hatte, schloss er eine Vereinbarung mit den Evangelikalen, weil er dummerweise glaubte, diese Leute würden ihn aus ideologischen Gründen unterstützen. Aber die Evangelikalen unterstützten ihn nur aus strategischen Gründen. Sie wollten am Regierungstisch sitzen und sagen dort gleich: wir haben dir Stimmen gebracht, was kriegen wir dafür? So war es in der ersten Regierung Lula, so war es in der zweiten Regierung Lula, und so war es auch ein bisschen nach der Wahl von Dilma. (Dilma Roussef von der PT war von 2011 bis 2016 brasilianische Präsidentin – die Red.)
Wir sind jetzt zwei Wochen hier und haben doch den Eindruck, dass es in den Armenvierteln zahlreiche Basisaktivitäten gibt. Wie könnten sie sich entwickeln, könnten sie sich vernetzten?
Ich weiß nicht. Ich kenne diese Basisinitiativen nicht besonders gut. Aber wenn man Politik machen will, muss man zu politischen Institutionen werden. Und das bedeutet institutionelle Politik, Politik in den Institutionen zu machen. Wenn diese Gruppen, die sich organisieren, nicht das Ziel haben, an institutioneller Politik zu partizipieren, führt das zu gar nichts. Sie können Probleme in ihrer Favela lösen, aber darüber hinaus nichts.
Eine der ersten Maßnahmen von Bolsonaro war es, das Kulturministerium zu schließen. Weshalb?
Das Motto der Evangelikalen ist: Jesus rettet. Ich sage: Bildung rettet, qualifizierte Bildung. Bildung, das ist nicht nur Schule und Unterricht. Kultur ist sehr viel mehr als das. Zur Kultur gehören Museen, Theater, Bibliotheken. Kultur ist Musik. In dem Moment, wo der Staat darauf verzichtet, diese kulturellen Bewegungen zu unterstützen, verhindert er, dass die Bevölkerung Zugang hat zu dem, was am revolutionärsten ist und am meisten verändert, und das ist Kultur. Da die Regierung die Kultur nicht will, bedeutet das, dass sie die Armen von Bewusstsein und Veränderungen abhalten will. Wir sind ein Land ohne Kultur, ohne Bildung, ein ignorantes Volk, und das ist empfänglich für Autoritäres, Obskurantes.
Kann man bei Bolsonaros Politik von einem Marsch durch die Institutionen sprechen?
Im März 2019 war Bolsonaro in Washington. Da gab er eine sehr interessante Erklärung ab: unser Ziel ist es, Brasilien zu zerstören – er benutzte nicht das Wort zerstören, aber dem Sinn nach. Was zerstören? Zerstören was existiert. Die Politik von Bolsonaro ist rein destruktiv. Nicht eine einzige positive Maßnahme. Alle seine Aktionen sind Aktionen der Demontage. Wir haben keine Indigenen-Politik, sondern deren Zerstörung, keine Politik für Kultur, sondern für deren Zerstörung, auch den Versuch der Zerstörung des politischen Systems,. Das ist die Strategie, Institutionen zu schwächen, um die Macht der Exekutive zu stärken.
Welche Versprechungen, welche Drohungen, die Bolsonaro im Wahlkampf angekündigt hat, hat er schon umgesetzt?
Er hat praktisch schon vieles von dem umgesetzt, was er versprochen hat. Einiges noch nicht, aber nur, weil er noch nicht so lange an der Regierung ist. Er hat schon das Rentensystem zerstört, das System der Arbeitsschutzrechte. Er hat die Förderung der Kultur beendet, ebenso den Schutz der Indigenen und der Umwelt. Alles was er angekündigt hat. Er hat Zerstörung versprochen, und er zerstört. Seine Wähler*innen sind sehr zufrieden mit ihm. Es hat kaum einen Präsidenten gegeben, der seine Versprechungen so umgesetzt hat.
Du magst es nicht, wenn du als politischer Schriftsteller bezeichnet wirst, obschon du viel über politische Fragen sprichst. Du hast einmal gesagt, dass Literatur einen transformativen Charakter haben kann. Glaubst du, dass du mit deinem Schreiben etwas bewirken kannst?
Nein, da wäre ich doch sehr optimistisch. Niemand liest in Brasilien. Noch nicht mal die Mittelklasse liest. Es wäre also sehr naiv, wenn ich sagen würde, ja, so ist es. Wir durchleben zurzeit vielleicht einen Moment großer Transformation. Historisch ist in solchen Krisen – und es ist nicht nur eine Krise in Brasilien, sondern eine Krise in der ganzen Welt – zunächst einmal das Negative. Wir erleben sehr negative Entwicklungen, z.B. die Zunahme der Fremdenfeindlichkeit in Europa, einen wachsenden ökonomischen Protektionismus, einen stärker werdenden Autoritarismus. Aber Krisen bieten auch Perspektiven der Rettung, du bereitest dich vor, du kämpfst gegen die negativen Tendenzen … aber das braucht seine Zeit, das dauert.
Gestern waren wir in Capao Redondo, einer riesigen Favela in São Paulo. Wir besuchten Jonas, einen junger Rapper, und seine Familie. In seinem Zimmer standen einige Bücher auf einem Regal. Als wir ihn nach seinem Lieblingsbuch fragten, holte er das Buch von Luiz Ruffato, Es waren viele Pferde.
Echt? (lacht) Das gibt’s doch nicht!!
Du sagst, dass Literatur in diesem Moment nichts verändern kann.
Nein, nein, Literatur verändert. Aber leider ist die Zahl der Lesenden in Brasilien sehr klein. Während der Regierung von Lula hat die Zahl der Gemeindebibliotheken deutlich zugenommen, auch in Capao Redondo wurde eine eingerichtet. Es gab viele neue öffentliche Bibliotheken, Schulbibliotheken. Im Haushalt gab es eine beträchtliche Marge zur Anschaffung von Büchern für öffentliche Büchereien.
Das Gespräch führten Lutz Taufer und Anselm Weidner im März 2020. Die Bücher von Luiz Ruffato erscheinen in deutscher Übersetzung im Verlag Assoziation-A. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 439 Okt. 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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