Zwei Frauen über 90. Beide leben im eigenen Haushalt, eine in Baden-Württemberg, die andere in NRW. Die Frau in Baden-Württemberg erhielt bereits die zweite Corona-Impfung in der Woche vor dem 25. Januar. An jenem Montag begann NRW erst, Impftermine zu vergeben. Die Frau in NRW stand noch Mitte der Woche ohne Termin da. Ihre Kinder versuchten von morgens bis abends vergeblich, einen zu bekommen. Sie waren baff, als NRW-Ministerpräsident Laschet befand: „Der Impfstart ist gelungen.“
Schlecht vorbereitet
In NRW leben 1,2 Millionen Menschen über 80. Rund 850.000 sollen einen Impftermin erhalten. Bis Anfang April stehen für sie nur 560.000 Impfdosen zur Verfügung. Bis alle 850.000 zum ersten Mal geimpft sind, wird es wohl Mai werden, vielleicht sogar später.
Die NRW-Regierung beauftragte die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), die Impftermine zu vergeben. Der Plan erwies sich als Schnapsidee. Die KV hatten noch nie mit einer so großen Menge von Terminen zu tun. Sie sind für diese Aufgabe weder technisch noch personell gerüstet.
Nach der Coronavirus-Impfverordnung von Bundesgesundheitsminister Spahn können die Länder die KV zwar „zur Mitwirkung bei der Errichtung, Organisation und dem Betrieb der Impfzentren und der mobilen Impfteams“ verpflichten, ausdrücklich aber nicht „für die Organisation der Terminvergabe“.
Ein Fall von Politik- und Verwaltungsversagen
Die Impfverordnung des Bundes stellt also den Ländern frei, private Profis mit der Terminvergabe zu betrauen. Der Tickethandel etwa kann leicht riesengroße Mengen von Terminen in kurzer Zeit vergeben. Im Unterschied zu anderen Landesregierungen machte die NRW-Regierung von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch.
Stattdessen schuf sie die besten Voraussetzungen dafür, dass der Start der Terminvergabe für die Bürger zum Desaster wurde. Wie zu erwarten war, brach die unzureichende Infrastruktur der KV schon kurz nach dem Start zusammen. Bis Mitte der Woche fiel sie immer wieder aus.
Der Impfstart war schlecht vorbereitet. Die Landesregierung hatte die Nachfrage unterschätzt und die technischen und personellen Möglichkeiten der KV überschätzt. Auf der Strecke blieben die Bürger. Ein Fall von Politik- und Verwaltungsversagen.
Noch einen draufgesetzt
Die Folge: Zehntausende mühten sich tagelang von morgens bis abends ab, einen Termin zu bekommen. Jeder vergebliche Telefonanruf und jeder gescheiterte Aufruf im Internet ließ in den Familien Wut und Frust wachsen.
Der Zorn bleibt nicht hinter der geschlossenen Wohnungstür. Freunde und Bekannte sorgen dafür, dass er sich über den Kreis der Betroffenen hinaus fortpflanzt. Alle Medien berichteten ausführlich über das Desaster. Der Zorn schwoll an, als Laschet die Vergabe der Termine für „gelungen“ erklärte. Zehntausende, die es besser wissen, sind wütend auf ihn.
Sie zürnen, er rede das Terminchaos schön. Sie fühlen sich nicht ernst genommen.
Und was tut Laschet? Er setzt noch einen drauf. Er brachte es fertig, sich selbst zu widersprechen und die Bürger noch stärker in Rage zu bringen. Er erklärte, es sei doch absehbar gewesen, dass die Terminvergabe mit Startschwierigkeiten zu kämpfen haben würde.
Den Ärger nicht ernst genommen
Spätestens nach dieser Äußerung wird vielen Bürgern klar sein: Der CDU-Chef und NRW-Ministerpräsidenten schafft es nicht, den Ärger der Bürger als real und begründet zu begreifen, ihn ernst zu nehmen und sich auf ihn einzulassen. Das ist schade für die Bürger. Für Laschet aber ist es schlimm.
Es fühlen sich nicht nur jene missachtet, die sich oft vergeblich um einen Impftermin bemüht haben. Auch jene, die noch gar keinen Termin beantragen können, schauen erstaunt zu, wie Laschet mit den verärgerten Bürgern umgeht. Das ist für sie ein Problem, aber auch ein Problem für Laschet.
Es zeichnet sich nicht ab, dass er auf die erzürnten Menschen zugehen wird. Viele CDU-Funktionäre, die mit den Bürgern und ihrem Alltagsleben engen Kontakt haben, werden die abweisende Reaktion ihres Ministerpräsidenten auf den Unmut der Bürger mit einiger Besorgnis wahrnehmen.
Die Lage beschönigt
Mancher CDU-Funktionär erinnert sich daran, dass Laschets SPD-Vorgängerin Kraft zu ihrer Zeit das Hochwasser in Münster und die Sorgen der Bürger nicht ernst nahm. Sie hielt es nicht für nötig, ihren Urlaub zu unterbrechen und nach Münster zu fahren. Weil sie sich den Bürgern nicht zuwendete, wendeten sich die Bürger von ihr ab.
Laschet betont, er könne Wahlen gewinnen. Das habe er 2017 in NRW bewiesen. Eine Selbsttäuschung. Die NRW-CDU schaffte es damals nur mit der knappsten Mehrheit von einer Stimme, eine Koalitionsregierung zu bilden. Nicht Laschet gewann die Wahl, sondern Kraft verlor sie. Viele Bürger waren es leid, dass sie und ihr Innenminister Jäger sich um die Bürger nicht kümmerten und die Missstände in NRW beschönigten.
Geerdete CDU-Funktionäre wissen: Es sind nicht nur die über 80-jährigen, die gerade vergeblich einen Impftermin suchen und erzürnt sind. Vielfach sind es deren Kinder, die sich aus Sorge um Vater und Mutter unablässig den ganzen Tag lang um einen Termin bemühen. Die meisten dieser Kinder sind älter als 60.
Alte Wähler vergrault
In der NRW-CDU müssten die Alarmglocken schrillen. Bei der Landtagswahl 2017 kamen 43 Prozent der Zweitstimmen für die NRW-CDU von Wählern, die 60 und älter waren. Bei der Bundestagswahl 2017 verdankte die CDU dieser Altersgruppe sogar 45 Prozent ihrer Stimmen.
Der neue CDU-Vorsitzende und NRW-Ministerpräsident Laschet ist drauf und dran, diese große Wählergruppe der CDU zu vergraulen. Die eingangs erwähnte über 90-jährige aus NRW, die bis Mitte der Woche noch keinen Impftermin hatte, lebt übrigens in Laschets Heimatstadt Aachen.
Die Aachener leiden nicht nur unter der Corona-Pandemie, dem Lockdown und dem miserablen Impfstart. Als wollte Aachens Gesundheitsamt illustrieren, dass auch Laschet nur mit Wasser kocht, warnt es gerade vor Colibakterien. Es forderte alle Aachener auf, Leitungswasser nur zu benutzen, wenn es drei Minuten lang kochend gesprudelt hat.
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