Anmerkungen zu den Grünen – im Guten und Schlechten – in Bonn und Berlin
Zu Beginn eine gute Nachricht: aus dem General-Anzeiger, ohne Paywall, erfahre ich, dass Annette Standop, Grüne Fraktionsvorsitzende im Rat, geimpft ist. Zur Impfsituation in Bonn informierte OB Katja Dörner heute morgen in WDR5 (Audio 7 min). Annette Standop, ihr Körper und sein Immunsystem. haben schon einige Lebenserfahrung im Kampf ums Überleben. Das kommt ihr natürlich auch in der Politik zugute.
Ein Teilhabeplan als diskursiver Prozess
Dass ich die Lady kennenlernte, habe ich vermutlich Florian Beger zu verdanken. Als seinerzeit jüngstes Stadtratsmitglied in Bonn lieferte er ein Meisterstück ab, das ich zum Zeitpunkt seiner Erstellung noch gar nicht als solches erkannte: der Behindertenpolitische Teilhabeplan. Das Kunststück daran ist nicht, was da Kluges drinsteht, und vieles noch auf seine Verwirklichung wartet. Das Kunststück war der parteiübergreifende Diskursprozess in der Stadtgesellschaft, der dem vorausging, und den Beger als Mitglied die Grünen-Fraktion verantwortlich organisierte. Verdutzt registrierte ich, wie die Mehrheit der damals aktiven Grünen-Mitglieder, dass einige Mitgliederversammlungen in beengten Versammlungssälen von 3-4 Rolli-Fahrer*inne*n “überfüllt” wurden. Eine davon ist Dr. Annette Standop gewesen. Zur Überraschung der Grünen handelte es sich um keinen Lobbyversuch durch eine – heute würde mann sagen “identitäre” – Interessengruppe, sondern um einen allerersten Emanzipationsschritt zur Teilhabe.
2014: Standop kandidiert für die Grünen
So kam ich im Vorfeld der Kommunalwahl 2014 auf die Idee, diese interessante Frau zu fragen, ob sie sich eine Kandidatur für den Stadtrat (auf der Grünen Reserveliste) vorstellen könne. Die Antwort war ein klares Ja. Sie verliess sich klugerweise nicht auf mich, sondern konsultierte weitere kommunalpolitisch relevante und sachkundige Menschen (die heutige OB darunter), von denen sie ebenfalls klare “Jas” erhielt. Bei der Kandidat*inn*en-Aufstellung durch die Grünen erhielt sie das beste Wahlergebnis. Welchen guten Fang wir gemacht hatten, erkannte ich beim nun einsetzenden intensiveren Kennenlernen.
Eine Frau in Standops Lebenslage ist auf klare funktionierende Strukturen angewiesen, und zwar zuallererst im eigenen Kopf. Es ist in ihren absolvierten Lebensjahrzehnten als Alltagsgewohnheit eingesickert. Es handelt von logistischem Vorausdenken, von dem schnellen Erlernen (digitaler) unterstützender Techniken, vom Delegieren an betreuende Hilfskräfte, und das so, dass alle Beteiligten trotz mannigfacher Anstrengungen gut damit klarkommen. Alltag als Kunstwerk. Davon profitiert sie selbstverständlich auch in ihrer politischen Arbeit. Und hat den meisten Anderen damit viel voraus.
Im Wahlkampf 2014 hatte ich mir angewöhnt, werktags nachmittags nach Feierabend Grüne Infostände vor dem Beueler Rathaus zu besetzen. Es war weniger los als samstags. Ich war die einzige anwesende Partei. Zwar gab es viel weniger Laufpublikum, kein Marktbetrieb wie samstags. Dafür kamen die Menschen eigeninitiativ zum Stand. Nicht wenige Rolli-Fahrer*innen mit Betreuung. Wenn ich sie im Gespräch auf Standops Kandidatur hinwies, zauberte ich unwillkürlich ein Strahlen in ihr Gesicht: Mut und Zuversicht, ein kleiner Traum von Emanzipation.
Die Grünen “gewannen” die Kommunalwahl 2014 in einer besonderen Weise. Anders, als sie es selbst nach einer schwarz-grünen Koalition im Stadtrat erwarteten, erlitten sie keine Verluste (18,6%), sondern gewannen noch 1.500 Stimmen hinzu. Was 2020 folgen sollte, konnte da noch niemand ahnen.
Grüne “Linke” im Stadtrat ziehen inhaltlich blank
Hier setzt nun das grosse Versagen der Linken in den Grünen ein, denen ich mich selbst zurechne. Mit einer Mehrheit in der gewählten Stadtratsfraktion behaupteten sie einen “Generationswechsel” bei der Bestellung der Fraktionsspitze, praktizierten aber ein aussergewöhnlich gestrig orientiertes Gegenteil (ich berichtete, u.a. hier und hier). Wenn es denn durch öffentlich vermittelte inhaltliche Diskurse begleitet gewesen wäre, die über Unlustbekundungen an der einen oder anderen Koalition hinausgegangen wären, hätte es dem Fortschritt in dieser Stadt dienen können. Hat es aber nicht. Stattdessen erlebte ich ein inhaltliches Blankziehen dieser “Linken”. Desillusionierender gings nicht.
Oase des Diskurses
In dieser Phase (2014-2016) war der von Annette Standop geleitete und von mir aus der Fraktionsgeschäftsführung begleitend mitorganisierte Facharbeitskreis Soziales der Grünen-Stadtratsfraktion eine Oase des inhaltlichen Diskurses. Hier trafen sich regelmässig hochkarätige Fachmenschen dieser Stadt zur Wohnungs-, Senior*innen-, Drogen-, Gesundheits-, Migrationspolitik, stritten sich fachlich heftig, aber frei von persönlich-eliminatorischer Absicht – und von der Parteienkonkurrenz im Rat gab es mehr Respekt und Anerkennung als Aggression. Das war politisches Arbeiten, wie es mir Spass machte. Und es ohne Standops Wirken nicht möglich gewesen wäre.
Die “Professionalität” von Baerbock & Habeck – ohne linke Gegenmacht
Was sich die linken Grünen in der Bonner Kommunalpolitik leisteten, spiegelte sich auf den anderen Politikebenen, und richtet dort weit bedeutendere Schäden an. Das Fehlen inhaltlicher Streitdiskurse ist flächendeckend in der Partei. Ulrich Schulte, Parlamentsredakteur der taz scheint dazu ein kluges Buch geschrieben zu haben, aus dem telepolis gestern ein Kapitel veröffentlichte. Gut beobachtet, und die Ambivalenz von Professionalität und wirksamer Medienarbeit gut ausgeleuchtet. Diese Professionalität fehlt den linken Resten in der Partei völlig. Sie ergehen sich in selbstreferentiellen Empörungsrunden in asozialen Netzwerken. Und merken nicht, dass die Öffentlichkeit sie gar nicht mehr bemerkt. Ein trauriger Anblick.
Selbstverständlich hätte auch die Linke präsentierbare Persönlichkeiten aufbauen können. Die Jungen Grünen sind die heutige Kaderschmiede, dort wachsen sie heran. Die Alten Linken lassen sie aber neidvoll nicht durch, wer zu hoch in der öffentlichen Aufmerksamkeit steigt, wird mit ausgeprägtem Misstrauen, Hengst- und Stutenbissigkeit “unterstützt”. Diese Tätigkeit lastet wiederum so aus, dass für inhaltliche Programmarbeit, mit der Organisation von Diskursen, die Frau Baerbock und Herrn Habeck wenigstens inhaltlich ein bisschen herausfordern könnten, leider keine Kapazität mehr frei bleibt.
Makabres und gleichzeitig wichtigstes Beispiel: die Aussen- und Rüstungspolitik. Die Grüne Parteispitze agiert hier wie die Mehrheit der Embedded Journalists, lässt sich ihre Sprechweise von denen vorsagen, statt von ihrer gesellschaftlichen Basis. Weil sie innerparteilich überhaupt nicht herausgefordert, auch nicht geerdet, werden. Eine Verzweiflung, die ich mit Antje Vollmer und Ludger Volmer teile.
Aber ich reg’ mich nicht mehr auf.
Lesen Sie zum besseren Verständnis des letzten Punktes auch das Interview, das Ramon Schack/telepolis mit Ludger Volmer führte.
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