Helge Braun, Kanzleramtsminister und Arzt von Beruf hat sich auf ein unsicheres Terrain gewagt: Wer sich nicht impfen lasse, erklärte er wie immer der BLÖD-Zeitung, müsse sich mit Nachteilen abfinden, die über die bisheringe Gleichbehandlung von Getesteten, Genesenen und Geimpften hinaus gingen. Der Mann hat das Grundgesetz nicht gelesen und schon gar nicht verstanden. Grundrechtseinschränkungen wie die der Freizügigkeit oder freier Entfaltung der Persönlichkeit sind nur in Abwägung der Verletzung anderer Grundrechte – z.B. des Rechts auf Leben und körperlicher Unversehrtheit – möglich und legal. Diese liegt aber keinesfalls vor, wenn jemand nicht geimpft ist. Söder und auch die Grünen befinden sich auf dem verfassungswidrigen Holzweg, wenn sie in Brauns Logik einstimmen.
Schwarz-Weißmalerei hilft nicht weiter
Bei den Grünen ist dieser Irrtum besonders bedenklich, tun doch die sogenannten “Realos” seit einiger Zeit alles, um sich als autoritäre Denker in eine schwarz-grüne Koalition einzuüben, an der Seite von Helge Braun oder Karl Lauterbach. Es ist einfach Unsinn und wird vor keinem Verfassungsgericht Bestand haben, wenn sie wie Markus Söder argumentieren, dass die bundesweit in Schulen eingesetzten Schnelltests auf Corona – die monatelang als Eintrittskarte für Restaurants, Baumärkte und Geschäfte taugten – nun plötzlich als “unsicher” und “ungenau” diffamiert werden. Natürlich, das wussten alle immer, sind sie weniger exakt, als PCR-Tests. Aber die scheinbare Sicherheitslücke erweist sich bei genauerem Hinsehen als Schimäre: Während sich Proband*inn*en drei Tage gedulden müssen, um das Ergebnis des PCR-Tests zu erhalten, können sie sich theoretisch bereits wieder angesteckt haben – ein Risiko, das dem des unpräzieren, aber aktuelleren Schnelltests näher kommt. Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass auch zweifach geimpfte Personen – in Köln waren es kürzlich insgesamt über 500 – an Corona erkranken können – freilich mit zumeist harmlosem Verlauf. Und dass es Fälle gibt, in denen auch ehemalig Corona-erkrankte das Virus erneut bekamen, ist seit etwa März 2020 bekannt. Das Einteilen in Gute und Böse hilft da nicht weiter.
Politik tut sich schwer mit Grautönen
Bei allen wissenschaftlichen Ergebnissen der ja noch nicht so alten Forschung zum Covid-19 besteht Grund zur Annahme, dass sowohl die verschiedenen Tests, als auch durchgemachte Infektionen, als auch vollwertige Impfungen nicht 100%ig vor Corona schützen. Es gibt also aus grundrechtlicher Sicht keinen Grund, signifikant zwischen der gesellschaftlichen Schutzwirkung, die von geimpften, zeitnah getesteten und gesundeten Kranken ausgeht, zu differenzieren. Helge Braun und Co. bewegen sich mit ihrer Argumentation folglich auf dünnem Eis. Die gesamte Kommunikationsstrategie ist falsch: Braun spielt den autoritären Maxe, Möchtgern-Kanzlerchen Laschet wiegelt ab und gibt Antwort auf eine nicht gestellte Frage: “Es werde keine Impfpflicht geben, auch nicht durch die Hintertür”. Wat ‘n Quatsch: Natürlich werden mit Fortschreiten der Impfungen und Wiederansteigen der Inzidenzen und Belastung der Krankenhäuser die Fragen nach Maßnahmen gegenüber Impfgegnern auf der Tagesordnung stehen. Nur möchte man sie im Wahlkampf vermeiden! Söder schärft in CSU-Manier die Sache wieder an. Würde er es ernst meinen, müsste er seinen Vize Aiwanger, erklärter Impfkritiker und Nichtgeimpfter, längst zurückgepfiffen haben, denn der ist argumentativ für Söder ein Sicherheitsrisiko.
Ideenreiche Anreize gäben die Chance zum Trost in der Krise
Stattdessen muss doch eine erfolgreiche Impfkampagne alle Chancen nutzen, die Spritze in die sozialen Brennpunkte, aber auch in Supermärkte, Wochenmärkte, Konzerte, Discomeilen, sogar bis in die Autoposerszene zu bringen. Ein Stahlarbeiter kann ebenso unverzichtbar sein, wie ein Fußballfan von Schalke 05 – aber besser, man impft sie vor Ort, statt kostspielige Kampagnen mit Millionensummen für Werbeagenturen zu starten! Impfungen in Unis, Schulen, Bahnhöfen, Fußgängerzonen, als Prämie 50 Euro oder ein Friseurgutschein, ein Ölwechsel oder einen Autokino-Bonus mit Fritten und Cola – oder ein Gutschein für veganes Essen im Biorestaurant – warum eigentlich nicht? Wer solche Überlegungen für zu platt hält, verkennt die Situation, in der unser Gemeinwesen gerade ist: seit Beginn der Corona-Krise wird den Menschen eine Menge an Verzicht und Einschränkungen zugemutet. Es wird Zeit, wenn diese Menschen mit Staat und Politik ruhig mal eine positive Überraschung verbinden. Wer in dieser Situation, die zudem noch von Einsamkeit und Isolierungen geprägt war und ist, ständig mit Drohungen, Verboten und Entzug von Möglichkeiten konfrontiert wird, besteht sonst um so mehr die Gefahr, das Gemeinwesen, das ihnen ständigen Verzicht auferlegt, grundsätzlich in Frage zu stellen.
Drohungen leisten keine Überzeugungsarbeit
Die Drohung mit der Selbstfinanzierung von Tests wird nicht dazu führen, dass etwa nicht geimpfte Skeptiker einsehen, dass sie nicht sozial handeln, sondern dass sie sich ungerecht behandelt und ausgegrenzt fühlen. Dabei kann es legitime Gründe für Skepsis geben. Ich kenne eine erfahrene Biologin, die lange in einem internationalen Unternehmen der Gentechnik tätig war, die aber lieber auf einen Totviren-Impfstoff warten möchte, wie ihn Sinovac herstellt. Der ist immer noch nicht in der EU zugelassen. Sie mit “Querdenkern” gleichzubehandeln, wäre unangemessen und intolerant. Die Politik muss überlegen, ob sie durch den Entzug von Solidarität im Gegenzug mehr Solidarität evozieren kann. Der Weg der Repression, den Helge Braun und Söder vorschlagen, entspringt zu sehr autoritärem Denken, das nicht auf Selbstentscheidung durch Einsicht, sondern staatlichen Zwang setzt. Eine Denkart, die sich durch die Corona-Krise schleichend verbreitet hat, aber einem emanzipierten Menschenbild entgegensteht. Und die zu solchen Exzessen führt, dass es nach wie vor Pflegeheime gibt, die zweifach geimpften Kindern den Kontakt zu ihren zweifach geimpften greisen Eltern verweigern. Sicher sind das Einzelfälle, aber sie müssen durch einen täglichen Kampf um Freiheitsrechte zurückgedrängt werden.
Corona- und Klimakrise – politisch ein unkalkulierbares Gemisch
Corona-Krise und die sich zuspitzende Umweltkrise durch die Überschwemmungskatastrophe im Westen spitzen das Verhältnis Bürger*innen und Staat derzeit zu. Wenn Flutopfer, die ein Haus oder eine Existenz im Umfang von mehreren hunderttausend Euro verloren haben, angesichts von fünfzehnhundert Euro Soforthilfe den Vergleich zur Lufthansa ziehen, die neun Milliarden Soforthilfe bekam, sollten bei allen einigermaßen sensiblen Politiker*innen die roten Lampen angehen. Die angekündigten 400 Mio. Euro sind angesichts der Schäden eher ein Tropfen auf den heißen Stein. Der angesichts aktueller Bau- und Rohstoffpreise nicht weit reichen wird, den Menschen ihren Schaden zu ersetzen, die nicht gegen Elementarschäden versichert waren – das liegt doch auf der Hand.
Bundestagswahl ante Portas
Weil diese Krisen zusammen kommen und in den öffentlich-rechtlichen und privaten Medien kritisch behandelt werden, die aber eine bestimmte Klientel der Corona-Leugner oder Parallelwelten gar nicht mehr erreichen, müssen wir uns als Zivilgesellschaft auf eine zunehmende Unberechenbarkeit des Ausgangs der Bundestagswahl einrichten. Es ist ja kein Zufall, dass Verschwörungserzähler und Querdenkende, die 2020 große öffentliche Aufmerksamkeit erlangten, in diesem Jahr kaum eine Rolle spielten, aber sich in den Gebieten der Flutkatastrophe ganz übel versuchten, in Szene zu setzen, indem sie sich als Opfer ausgaben und THW, Rettungsdienste und Helfer beschimpften und angriffen. Die Frage ist, welche Rolle derartige und andere Angriffe der Öffentlichkeit über asoziale Medien spielen werden. Und ob es gelingt, Werte wie Solidarität, Transparenz, demokratisches Handeln und Glaubwürdigkeit der Zukunftsentwürfe zu kommunizieren und vor allem in politische Visionen umzusetzen, die auf Zustimmung stoßen.
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