Ich glaube nicht, dass Anne Brorhilker als Staatsanwältin eine Aussage dieses Inhalts über den noch amtierenden Bundeskanzler und ehemaligen Hamburger Bürgermeister getroffen hat. Ziemlich sicher bin ich aber, dass sie das über ihn denkt. Ihre Darstellerin Lisa Wagner, fiktionalisiert als Kölner Staatsanwältin Birkwald (eine Anlehnung an unseren Extradienst-Autor, den besten aller meiner Rentenberater*innen?), spricht es aus. Fiktion eben.
Fazit vorweg: “Die Affäre Cum-Ex”, Verfügbarkeitsdauer ohne Angabe, sollten Sie sich ansehen – wenn Sie es nicht schon getan haben. Das ist gute TV-Unterhaltung, die mit Kritik an den real existierenden Machtstrukturen hiesiger politischer Ökonomie so wenig spart, dass das Ihr Vertrauen in einen kapitalistisch orientierten demokratischen Staat zu untergraben, nunja, zumindest geeignet ist.
Die Tatsache einer deutsch-dänischen Koproduktion hat offenbar den hierzulande üblichen Politkitsch auf ein erträgliches Mass verringert. In wesentlich mutigeren und erfahreneren TV-Branche Dänemarks wissen sie schon wesentlich länger, wie mann gutes TV macht, als beim rheinland-pfälzischen ZDF. Executive Producer Jan Schomburg war gewiss gut beraten, sie mit an Bord zu holen. Ebenso beratend mit dabei Oliver Schröm, der von Fabian Hinrichs erstklassig stark sympathisierend verkörpert wird. Der Bundeskanzler, der so viel Wert auf die Darstellung nicht existierender Erinnerung gelegt hat, wird o.g. Dame und auch diesen Herrn gewiss noch lange Zeit gut identifizieren können. Deformation professionelle, denn der Genosse ist gelernter Rechtsanwalt.
In einem erstklassig gecasteten Ensemble ragen für mich, zweifellos subjektiv geurteilt, zwei Personen heraus. Justus von Dohnányi ist, vergleichbar dem Fussballkonzern aus dem süddeutschen Raum, schon seit vielen Karrierejahren deutscher Meister in der Darstellung unsympathischer bis bösartiger Arschlöcher. Gut durchdacht sein prollähnliches Anfassen eines Rotweinglases, das drehbuchgerecht seine Selbstdarstellung als Geniessertyp wirkungsvoll dementiert. Und sein Gesicht in der Abschlussfolge, bei der er die Staatsanwältin zum Bestechungsessen einlädt, in dem Moment, in dem er begreift, dass er sie nicht unter Kontrolle bekommt.
Die führende dänische Rolle spielt Karen-Lyse Mynster. Wow, die Dame wird in wenigen Wochen 73! Sie spielt eine Kohlhaas-ähnliche dänische Steuerbeamtin, die sich aber nicht aufs Glatteis führen und unterkriegen lässt. Was sie im Film mit ihrer Behörde und ihrer Politik erlebt, ist – s.o. – geeignet, ebenso an der dänischen Demokratie mehr als nur zu zweifeln …
Zufall, dass die bösen Unfähigen in beiden Staaten Sozialdemokrat*inn*en waren und sind? Eher nicht. Das grosse Kapital weiss zu gut Bescheid über die Nützlichkeit von “Idiot*inn*en”.
Versöhnt werden wir Zuschauer*innen mit der Schlussszene. Da wäre ich gerne dabeigewesen. Nur besser bezahlt.
Update nachmittags
Zwei Besprechungen professioneller Filmkritiker:
Manfred Riepe/epd-Film: “Dänen und Hyänen”
Rüdiger Suchsland/telepolis: “‘Cum-Ex’-Serie: Der böse Olaf Scholz und die guten Staatsanwälte – ZDF-Double-Feature: Die Dokumentation: ‘Systemfehler: Der Cum-Ex Skandal’ siegt über die Fiktion ‘Die Affäre Cum-Ex’. Fakten schlagen Moral.”
Olaf Scholz gegen diesen Film zu verteidigen – das ist zumindest originell, zwanghaft originell. Telepolis muss es echt schlechtgehen. Ich teile die Kritik dieser Kritiker nicht, will sie Ihnen aber auch nicht verschweigen.
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