Wer schafft die 20? – Ignorierte Tiefenströme
Heute habe ich zum ersten Mal seit langem wieder Umfragezahlen gelesen. Die Schlagzeilen der mächtigeren Medien kreisen, wie schon beklagt, nur um die Nasen. Über längere Linien betrachtet sind aber bedeutendere, mglw. auch nachhaltigere Tiefenströmungen zu sehen. Nur das Ende der Volksparteien ist dabei breiter bemerkt worden. Das hat aber Folgen, die mindestens ebenso aufmerksam beachtet werden sollten.
Mit Hilfe der gegen Merkel amoklaufenden CSU war vor wenigen Jahren die Natter AfD genährt worden. Das Denken dieser disparaten Truppe des Gestern war immer in der CDU/CSU zuhause (“politische Heimat”), und verzog sich in diese Hundehütte vor dem Eigenheim. Jederzeit kann der Köter gegen ausländische, gar muslimische Briefträger und Milchmädchen mobilisiert werden. Sympathien (“das Ansehen Deutschlands in der Welt”) bringt er keine ein.
Nach dem Abtritt Merkels schmilzen die zahlreichen alten Frauen ab, die Merkel wegen Merkel und der gegen sie dilettierenden Männer die Treue hielten. Die 68er-Feministinnen sind Omas geworden, sie sind viele. Zusammen mit ihren Enkel*inne*n wanderten sie zu den Grünen ab. Die Kämpfe der Männerdiadochen – für wen waren die attraktiv und anziehend? Ich kenne niemand.
Nachdem Laschet “gesiegt” hat, ging das Dilettieren erst richtig los. In der ersten Phase fielen Essensreste vom Tisch. Dort lag aber nicht der AfD-Köter, der ist schon satt, und kann bekanntlich noch nicht einmal “Papp” zu irgendeinem aktuellen politischen Problem sagen. Sondern dankbar nährte sich die FDP, dabei sorgfältig jeden abschreckenden Lärm vermeidend.
Die nun bereits eingetretene Weltuntergangsstimmung in der CDU/CSU verbreitet den berechtigten Eindruck, dass sie nun endgültig das Regieren verlernt. Dafür bietet sich die SPD als Rettungsanker, die in der bisherigen Regierung ganz eindeutig die leistungsstärkeren Minister*innen stellte (von denen der saarländische Aussenminister wahrscheinlich der Schwächste war). Diese objektive Erkenntnis setzt sich gegenwärtig in den herrschenden Klassen durch. Die sind ja nicht doof.
Das hat nun dazu geführt, dass die Sonntagsfragen-Statistiken im Bund sich denen annähern, die in dem mittelgrossen Kaff Berlin schon lange gären: CDU, SPD, Grüne auf gleicher Höhe, FDP und AfD in Sichtweite dahinter (und in Berlin auch – noch – “Die Linke”).
Das wird dabei übersehen
Wo politische Konflikte so phobisch vermieden werden, wie im gegenwärtigen Bundestagswahlkampf, steigt nicht die Aufmerksamkeit, ganz zu schweigen von Mobilisierung, sondern das Desinteresse, das Abwenden immer grösserer Teile des zweifellos heterogenen Publikums. Der Heterogenität und Segmentierung des Wahlvolkes steht eine – scheinbar – wachsende Homogenität des Parteienangebotes gegenüber. 100 Joghurt-Sorten im Regal bleiben doch alle Joghurt. Was macht da jemand mit Laktoseallergie? Sie*er sucht einen anderen Laden.
In Deutschland kann das dauern.
Kurzfristig bestünde eine Lösung darin, wenn es einer Partei gelänge, eine polarisierende, konflikterzeugende politische Initiative aus der Schublade zu ziehen (oder zu reaktivieren). Sie könnte damit einem Mobilisierungseffekt ihrer eigenen potenziellen Wähler*innen*basis erreichen, und gegenüber den gleichauf liegenden Konkurrent*inn*en auf der Zielgerade Prozente erkämpfen. Diese Variante erscheint mir unwahrscheinlich. Sie sind zu ängstlich. Und nach meiner persönlichen Meinung zu dumm dazu. Der angeblich “irre” Donald Trump war es nicht; es waren keine “russischen” Stimmen, die ihn gewählt, sogar wiedergewählt, haben.
Wahrscheinlicher ist ein erneutes Sinken der Wahlbeteiligung. Sie war 2017 erstmals wieder leicht auf 76,2% gestiegen, weil die Stärkung der AfD die demokratisch gesinnte Mehrheit mobilisierte. Dieser Effekt kommt nicht wieder, weil eine Gewöhnung an den rechten Rand eingetreten ist, und die demokratischen Alternativen so wenig überzeugen. Die heterogene “Gruppe” der Nichtwähler*innen wird mit noch grösserem Abstand als zuvor die grösste vor irgendeiner Parteianhänger*innen*schaft sein.
In das Vakuum werden weitere Neugründungen eintreten. Die “Sonstigen” sind in jetzigen Umfragen bereits nah an 10%. Keine Einzelne davon hat die Aussicht in Kürze relevant zu werden. Weil sich alle in ihrer Blase, gerne mit staatlicher Parteien- und Wahlkampffinanzierung, einrichten, und gar keine Lust auf die viele Arbeit haben, die mit einer Verhandlung über Wahlbündnisse, oder gar Koalitions- und Regierungspolitik verbunden wäre. Am Ende müsste mann noch für irgendwas gradestehen …
“Erfahrungen”, wie die “Piraten” oder “Aufstehen”, sorgen, wie die gegenwärtige Selbstzerlegung der “Die Linke” für nachhaltige Demobilisierung.
Einschub: Der hier verlinkte Spiegel-Text ist natürlich spiegeltypisch an Bösartigkeit nicht zu übertreffen. Eine “Gewerkschaft”? Mit 2.000 Mitgliedern? Andererseits: die Zitate hat der Spiegel nicht gedichtet, sondern geschenkt bekommen. Wahlkampf geht anders. Und Solidarität sowieso.
Wie schon gesagt: in Deutschland kann das dauern.
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