… ausser abkackende Medien
Extradienst-Gastautor und Adorno-Schüler Dieter Bott hatte mich vor Jahrzehnten schon gelehrt, was für eine Pest die Sportifizierung von öffentlichen Diskursen ist. Ich bekenne mich mitschuldig. Ich beteilige mich an Tippspielen zur “Voraussage” von Wahlergebnissen, die ganz ähnlich aufgebaut sind, wie solche zu Fussball-WMs und -EMs. In meinem Tippspiel gewinnt die*der Gewinner*in einen Monat lang frei Essen bei einem wöchentlichen Lunch freitagsmittags. Nun grüble ich, welchen Fehler die Umfragen wohl dieses Mal enthalten. Wenn ich den richtig erfasse, habe ich die beste Gewinnchance (gewählt habe ich schon vor Wochen).
Trielle brauche ich dafür nicht. Und auch sonst niemand. Arno Frank/taz hat das schön aufgeschrieben. Was er beschreibt, gilt nicht nur für die Trielle, sondern für alle Talkshows. Die sog. “Umfrageinstitute” sind ja in Wirklichkeit Marktforschungskonzerne. Die machen die Polit-Umfragen nur zu Marketingzwecken, um auf sich selbst aufmerksam zu machen. Rechtssozialdemokrat Manfred Güllner/Forsa (FROG, “Friends Of Gerd” Schröder) ist ein Meister dieses Fachs. Wie entwickle ich aus dem Zahlenmaterial die optimale Schlagzeilen-Botschaft? Andere, wie Allensbach/FAZ, sehen ihre Aufgabe auch darin, der CDU, so gut es irgendwie noch geht, politikberatend zur Seite zu stehen, bzw. mittlerweile: die Hand zu halten und den Blutdruck zu kontrollieren.
Theoretisch könnten die zu jeder TV-Talkshow eine Blitzumfrage machen, wie sie es zu den Triellen tun oder zu früheren Duellen taten. Aber das hätte keinen Marketing-Mehrwert, und würde den teuren und immer schwierigeren Einsatz – was ist heute noch repräsentativ? – unnötig inflationieren. Auch die TV-Sender haben keine Lust, die Kosten für den Billig-Talktrash unnötig hochzutreiben. Darum ermittelt niemand, auf dem wievielten Platz Karl Lauterbach und Robin Alexander diese Woche im Vergleich zur Vorwoche gelandet sind. Haben Sie heute den Aust stammeln gehört? Meine Güte, ist der alt geworden. Ich habe schnell wieder abgeschaltet (hören Sie stattdessen “Sonntagsspaziergang” im DLF, da ist auch die Musik besser).
In meinem Tippspiel nicht enthalten ist die grösste Wähler*innen*gruppe: die, die nicht teilnehmen, werden jeden Parteianhang übertreffen. Sie sind raus, wie früher die Sklav*inn*en oder heute die Millionen nicht wahlberechtigten Ausländer*innen. “Trielle” interessieren sich nicht für die, “Umfrageinstitute” auch nicht, die Glotze (meistens) auch nicht. Es gibt sie trotzdem. Und sie werden immer mehr.
Berlin – ähnlich weltabgewandt
Ähnlich weltabgewandt, sogar von sich selbst und ihrer sozialen Wirklichkeit: “unsere Hauptstadt”. Mal wieder ist es am Fussball zu erkennen. Es wäre wohl wirklich das Beste für diesen Sport, wenn Hertha BSC und, wenn nicht diese dann spätestens nächste Saison, auch meine Borussia und der FC Köln in die 2. Liga abstiegen. Die wäre dann für uns Fans die wahre Erste Liga. Und oben schwirren der Fusballkonzern aus dem süddeutschen Raum und die Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA in die “Super-League” von JP Morgan ab. Dann wären wir die Geldsäcke los, und könnten uns wieder auf den Fussball – der, bei dem niemand weiss, wie er ausgeht – konzentrieren.
Charlotte Wiedemann
Sie, die ich als (verehrte) Freundin bezeichnen darf, macht sich und ihr Schreiben auf. Danke. Mein Bloggen ist auch so eine Selbstuntersuchung.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net