“Verstehen” kommt von “Verstand” – ohne wäre also schlecht
Im vermachteten öffentlichen Diskurs werden immer mal wieder Begriffe umgedeutet. Was mal gut war, wird ironisiert und abgewertet. Gute Menschen sind so ein Fall, oder Theorien. Wo Maggie Thatcher “There is no alternative” in der politischen Klasse volkstümlich machte, wurden Theorien zur krankhaften Spinnerei, so wie es Helmut Schmidt schon mit Utopien gemacht hat. Nun also ist Verstehen so eine Art kindische Naivität. Bitte schützen Sie Ihre Kinder vor solchem Schwachsinn.
In der deutschen Aussenpolitik ist er zu herrschenden Lehre geworden. Dass deutschen Maoisten im hohen Alter, sich selbst umbenennend zu “modernen Liberalen”, so eine Umwertung sprachstrategisch gelingen sollte, hätte ich mir in meiner politischen Jugend, in der ich sie an allen Orten erfolgreich bekämpfte, in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können. Damals waren die Herrschenden noch auf Floskeln wie “von Moskau gesteuert” oder “kommnunistisch unterwandert” angewiesen, mit der Konsequenz “Geht doch rüber!”, gemeint war die DDR, wo unsereiner nun wirklich nicht dauerhaft hinwollte. Heute also sind wir wahlweise “Russland-“ oder “Putin-Versteher”, im Alltagsgebrauch selten unterschieden. weil Russland und Russe immer noch einen schlechten Klang hat. Dass es umgekehrt auch so sein könnte, hat hier noch nie interessiert – ausgenommen einige 80er und 90er Jahre (“Gorbimania“; der Schalker Bundesligaprofi Sascha Borodjuk wurde 1989-93 mit “Gorbi, Gorbi”-Rufen angefeuert).
Hier also, liebe Russland-Versteher*in, sind Sie im Moment richtig. Es soll um die auf dem Weg in eine Sackgasse befindliche deutsche Aussenpolitik gehen. Reinhard Lauterbach/Junge Welt analysiert die Ausgangslage am Tag der Ankunft von Frau Baerbock in den USA. Wie viel Interesse wird sie dort wecken?
Herbert Wulf/telepolis skizzierte gestern ein realistisches Konzept für einen Neustart. In eine ähnliche Richtung geht ein Statement des österreichischen ÖVP-Politikers Gottfried Kneifel/Wiener Zeitung, ein sachdienlicher Hinweis, den ich Extradienstleser Klemens Roloff und Extradienst-Autor Adalbert Krims verdanke. Die ÖVP, nur zur Erinnerung, ist Schwester der CDU/CSU, und im Gegensatz zu ihr Regierungspartei.
Ulrich Heyden/telepolis schliesslich setzt sich von Russland aus, ohne mit Kritik an der Praxis des Putinregimes zu sparen, mit der in der hiesigen Politik grassierenden Russophobie auseinander (Fortsetzungen sollen folgen). Ich teile seine Klage über das ignorante Verhalten deutscher Medien. Fritz Pleitgen. Gerd Ruge, Klaus Bednarz, Gabriele Krone-Schmalz, Peter Bender, Günter Gaus waren alle “Russland-Versteher”. Nicht in Nischen, sondern in meinungsbildenden Massenmedien. Sie waren neugierig, sie wollten lernen, und uns daran teilhaben lassen. Ich werde ihnen lebenslang dafür dankbar sein.
Das ist alles weg. Sehen Sie nur, auf welche Quellen ich hier verlinken musste. Menschen, die im Geschichtsunterricht aufgepasst haben und sich noch an ihn erinnern können, bekommen wieder Vorkriegsangst. Das ist zunächst einmal “nur” ganz miserable Politik – und der dazu passende Propaganda-Journalismus. Vertrauen schaffen geht anders.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net