Das Versagen gegenwärtiger Politik in der EU und Deutschland, in den USA und in Russland ist der Panikmodus, in den sie ihre Untertanen versetzen. So wird das Bedürfnis nach “väterlichen” oder “mütterlichen” Alleinherrscher*inne*n erzeugt, die für mehr Sicherheit sorgen, als es demokratische oder scheindemokratische Regimes derzeit zu liefern imstande sind. Die Münchener “Sicherheitskonferenz”, die doch seit Jahrzehnten immer aufs Neue Unsicherheit und Kriegsangst verbreitet, ist ein dafür repräsentativer Verkehrsunfall.
Es geht auch anders. Wohltuend klar und cool (und kompakt, also schnell zu lesen und zu kapieren) analysiert David Teurtrie in der LeMonde diplomatique die Entstehungsgeschichte der Ukraine-Krise: Eskalation mit Ansage – Die aktuellen Spannungen haben eine lange Vorgeschichte, die mit dem Ende des Kalten Kriegs begann und sich mit der Osterweiterung der Nato fortsetzte. Die EU hat bei dieser Entwicklung zu keinem eigenen gemeinsamen Standpunkt gefunden, sondern sich für US-amerikanische Interessen einspannen lassen.” Teurtrie ist Osteuropaexperte am Institut national des langues et des civilisations orientales (Inalco) in Paris. Die LeMonde diplomatique, erscheint monatlich in einer deutschen Ausgabe und profitiert sichtlich immer wieder von der weit cooleren weltzugewandten Weltsicht ihrer französischen Herkunft (gegenüber der verengten Sicht der Berliner taz).
Nach dieser Lektüre müsste es eher wundern, wenn russische Regierungsvertreter*innen an der als Privatunternehmen firmierenden Münchener Konferenz teilnehmen würden. Meine Freundin Claudia Roth dagegen tut es (sie hats von dort nicht weit nach zuhause), und bekommt dafür verdientes Feuilleton-Lob. Ich zweifle nicht, dass sie dort Gutes tut. Aber gegen diese Ansammlung von Arschlöchern wird sie nicht ankommen.
Jemand schrieb dieser Tage, dass die heutigen Politiker*innen den realen Krieg nicht selbst erlebt haben. Die meisten sind schon tot. Und ja, das Gefühl habe ich auch, dass es den Heutigen anzumerken ist. Kriegverhindern ist – zumindest in der öffentlichen Bühnendarstellung – nicht mehr Punkt 1, sondern: wie lasse ich mich nicht von dem/denen unterkriegen und als Schwächling darstellen? Der Unterschied zwischen humanem und Rudelverhalten verschwindet. Wobei die Position im eigenen Rudel die Erkenntnisleitung übernimmt. Ich gebe zu: mir als Wähler, Bürger und Menschenfreund macht das Angst, vor allem weil ich sehe, was bei Vielen mir vorgeblich politisch Nahestehenden passiert.
Öffentliche deutsche Medien zerlegen sich selbst
Kämpferische Antikriegs- und entspannungspolitische Positionen im Journalismus wurden in diesem Blog schon zur Genüge gewürdigt. Viel davon übrig ist in dem Business nicht mehr. Auch hier Rudelverhalten. ARD und ZDF sind zur Entwicklung gemeinsamer Strategien umso weniger in der Lage, je wichtiger sie werden. Die ARD verkündete dieser Tage Pläne zum Ausbau ihres Tagesschau24-Kanals. Sie macht damit Tagesschau24 zum besseren Phönix. Letzteres ist nämlich ein gemeinsames Programm mit dem ZDF – das beide vernachlässigen und vergammeln lassen. Überzeugend ist anders.
BVB und Olympia dito
Das Rudelverhalten ist auch unten an der Basis dominant. Roland Appel beschreibt es von den Olympischen Spielen. Der BVB zeigte es gestern im Stadion.
Hauptsache Bigotterie
Ist Geldverdienen eine abnormale Sexpraktik? Es ist jedenfalls Bestandteil des Denkens mancher Figuren, die in Deutschland machen, was former known as “Medienpolitik” war. Es ist in seiner Folgenlosigkeit nicht mehr wirklich wichtig, aber erschütternd, was politisches Denken und Handeln dafür gut dotierter Beauftragter betrifft.
Der Sofortismus der asozialen kapitalistischen Konzernmedien macht was mit dem menschlichen Kommunikationsverhalten. Es sieht aus wie eine Erweiterung, Beschleunigung, Effektivierung. Die kulturellen Fähigkeiten des Menschen brauchen jedoch mehr Gründlichkeit und Langsamkeit, um die Techniken zu beherrschen, statt selbst von ihnen beherrscht zu werden. Gegenwärtig sind die Kapitalakteur*inn*e*n im Vorteil, die glauben diesen Prozess beherrschen und steuern zu können. Im schlechtesten Falle führt er zur Selbstzerstörung. Hat Marx das nicht schon vorhergesagt? Adorno lesen könnte auch nichts schaden. Oder Alexander Kluge (90!).
Das Gegenmittel – die Impfung – wäre gesellschaftliche statt Konzernkontrolle, Bildung, vor allem Medienbildung, und mehr Demokratie. Die könnte mehr Beschleunigung vertragen. Die Grünen hatten das mal vorgehabt.
PS: bleiben Sie, wenn Sie bis hierher gelesen haben, dennoch zuversichtlich und gutgelaunt. Dabei hilft Ihnen dieser Kirsche-und-Staat-Unterricht von Friedrich Küppersbusch. Wenn Sie jung sind und kein Geld brauchen, sind Sie bei ihm richtig.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net