Kanzler Scholz erfährt derzeit, was einst DDR-Diktator Honecker schmerzlich durchlitt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Seit die Weltpolitik über den bürokratisch betulichen Scholz hinwegfegte, hat er nicht nur Mühe, ihr hinterher zu laufen. Er quält sich auch damit ab, den Eindruck zu verwischen, seine Spätzündungen seien notorisch.
Die Realität verbiegen
Wie jeder Strebsame, der feststellt, hinter dem Mond zu sein, gibt er sich nicht damit zufrieden, auf der Höhe der Zeit zu erscheinen. Scholz muss den Menschen klar machen, dass er die Entwicklung anführt. Und so bemühte er sich in der Talkshow „Anne Will“, die Realität zu verbiegen.
Er bestritt, dass er lange zögerte, Sanktionen gegen Russland zu verhängen und den Ukrainern Waffen zu liefern, dass er ihnen zu wenige lieferte, dass Lieferungen nicht klappten und dass er von anderen EU-Staaten unter Druck gesetzt wurde, endlich aus den Puschen zu kommen.
Scholz versuchte, an die Stelle der Realität ein Märchen zu setzen. Er stilisierte sich als Vorreiter in EU und NATO. Nicht er sei den Bündnispartnern hinterhergelaufen, sondern sie ihm.
Den Schaden beheben
Immer, wenn er in der Sendung an diesem Mythos werkelte, konnte sich Moderatorin Will ein Lächeln nicht verkneifen. Je hartnäckiger Scholz darauf beharrte, Europas Anführer zu sein, desto mitleidiger schmunzelte Will.
Zu Beginn des Krieges stand er neben der Realität. Die grüne Außenministerin Baerbock nahm ihm die Butter vom Brot. Nun will er den Schaden beheben und in guter alter SPD-Manier ein Märchen zur Medienwirklichkeit machen.
Die SPD-Politiker, die an dieser Aufgabe scheiterten, sind Legion. Die Reihe reicht von Ex-NRW-Ministerpräsidentin Kraft bis zu Scholz-Vorvorgänger und Putin-Freund Schröder.
Boah, Herr Horn, mit allem Respekt, aber unter Honecker hatten sie es nicht? Aber gut, passt ja in den Tag. Immerhin war der Saarländer.
Ich gestehe ihnen wirklich ihre Kritik zu, dass des Kanzlers Performance in den letzten Wochen und Monaten an sehr vielen Stellen zu wünschen ließ. Auch Frau Baerbocks Bewertung mag ich noch irgendwie folgen – durchaus überraschend, und auch durchaus bemerkenswert, angesichts all der misogynen Kackscheisse die in den letzten Monaten nach ihr geschmissen wurde. Aber “Butter vom Brot”? Ehrlich? Ich sehe hier in der Bundesregierung eine Arbeitsteilung die funktioniert. Manchmal nur leidlich, aber eben geschlossen – und mit deutlich verteilten Rollen.
Wenn nun ein Bundeskanzler eine Einzelaudienz bei Frau Will wahrnimmt, tut er das, weil es eben zu seiner Jobbeschreibung gehört. Das ist für einen Sprechroboter wie Herrn Scholz ein Forum das nicht nur seiner Natur widerspricht, sondern wegen der allgemeinen Anspruchshaltung an das Hochamt der TV-Demokratie (die ich ganz und gar nicht teile), deshalb immer auch ein Auswärtsspiel.
Nichtsdesdotrotz wird dieser Auftritt insbesondere auch international sein Echo finden – bzw. Wort für Wort in seine Aussagen zerlegt, sie haben es bei Joe Bidens Rede in Warschau gerade erlebt… und die Realität ist so dynamisch wie seit vielleicht 50 Jahren nicht mehr. Da sind ihre und meine Befindlichkeiten in kleinen deutschen Nischenblogs geradezu irrelevant.
Wobei… ich bin gerade mal in den Kommentar-Keller bei Spiegel-Online hinabgestiegen – mach ich nicht oft, weil es da ganz furchtbar ist – seine Wirkung hatte der Auftritt durchaus auch beim Publikum… für mich überraschend.
Kann man(n) aber auch zur Kenntnis nehmen.
Ich schreibe mal auf, was mir zu Ihrem Kommentar spontan einfällt.
Hören und schauen Sie sich in Europa um: Herr Scholz genießt einen Ruf wie Donnerhall. Er hat es in wenigen Wochen dahin gebracht, dass ganz Europa über Deutschland den Kopf schüttelt. Denken Sie nur an den Selenskyj-Auftritt im Bundestag.
Dass der Besuch von Talkshows zur Jobbeschreibung eines Bundeskanzlers gehört, kann ich nicht nachvollziehen. Kanzler gehen in Talkshows, wenn sie nacharbeiten und ausbessern müssen. Ihr Job ist es, auf der Höhe der Zeit zu sein und zu regieren. Wenn das nicht klappt, müssen sie auf Talkshow-Tournee, um ihre Leute bei der Stange zu halten.
Wie Sie auf die Idee kommen können, die Koalition wäre geschlossen, kann ich nicht nachvollziehen. Die Spaltung beginnt doch schon in der SPD. Der Auftritt des Kanzlers bei Will diente auch dem Zweck, die Unzufriedenheit in den eigenen Reihen zu dämpfen.
Es gehört zum Wesen der Zeitläufte, dynamisch zu sein. Leider gibt es Politiker, die das nicht bemerken, weil sie vor sich hin dösen. Wenn sie es bemerken, reden sie von “Zeitenwende”. Es sind diese verschlafenen Politiker, die sich gezwungen sehen, sich zu wenden. Die Zeiten tun es ohnehin, und zwar permanent.
PS: Ich weiß genau, wie groß und klein ich bin. Ich bin damit ganz zufrieden. Ich habe den begründeten Verdacht, dass bei Herrn Scholz die Dinge anders liegen.