Vor einigen Tagen traf ich zufällig einen ehemaligen Kollegen aus der Staatskanzlei von Johannes Rau, aus der Zeit der ersten rot-grünen Koalition in NRW (1995-2005). Ich begrüsste ihn mit dem Spruch: “Als Student habe ich dem Genossen Olaf nicht über den Weg getraut. Heute dagegen …” Er antwortete spontan: “Ich auch.” Es entsponn sich ein zweistündiges Gespräch bei bestem Wein und Tapas (“Blaue Stunde”, Dorotheenstr. 37), ohne jeden Streit, aber mit vielen Erinnerungen. Die Olaf-Deutung wird nun zu einer eigenen Forschungsdisziplin. Ich weiss, dass dem das gefallen wird.
Einen sehr konstruktiven Beitrag, mit einem allerdings schwerwiegenden blinden Fleck, auf den ich weiter unten komme, leistet Wolfgang Storz/bruchstuecke.info: “Wer schützt Brandts Ostpolitik vor der SPD?” Die Analyse stimmt, die Betrachtungsperspektive von Storz ist nur leider zu eng. Storz’ richtige Erkenntnis zu Willy Brandt / Egon Bahr: “So war diese Entspannungspolitik immer begleitet von einer Art Eindämmungsstrategie gegenüber der Sowjetunion.” Exakt. Die Brandt-Groupies in der SPD wollten nie wahrhaben, dass der Genosse Willy ein Nationalist war. Sein politisches Leben wurde mit der Einvernahme der DDR 1989/90 gekrönt. Für ihn konnte es, anders als für seine sog. “Enkel”, nichts Schöneres geben. Da war er ganz bei seiner in der SPD weitgehend verhassten letzten Gattin.
In Storz’ Analyse spiegelt sich darüber hinaus, dass die späten Sozis der letzten Jahrzehnte willige Vollstrecker eines nur mässig sozialdemokratisierten Neoliberalismus waren, dementsprechend die Politik ihre Primatrolle an das “Geschäft” verlor. Dass das blind macht, ist schon lange bekannt. Aber die SPD musste sich als Volkspartei erst selbst zerstören, bevor sie langsam – übrigens unter dem Vorsitz der vom Hof gejagten Andrea Nahles – begann das zu lernen. So wurden die von Storz namentlich kritisierten Genossen zu den Charaktermasken, die sie bis heute geblieben sind. Und Olaf muss ihnen nun hinterherräumen – gerecht daran ist, dass er “es” ja persönlich selbst mit angerichtet hat.
Aus seiner eigenen politischen Distanz als gelernter Marxist geht Michael Jäger/Freitag kühler an die Olaf-Deutung ran: “Wahldebakel und Haltung zum Ukraine-Krieg: Was erlauben Scholz? – SPD Die Sozialdemokraten haben die Landtagswahl in Schleswig-Holstein krachend verloren. Liegt das am Zögern von Olaf Scholz im Ukraine-Krieg? Dafür hatte der Bundeskanzler gute Gründe”. Und ich glaube, Jäger versteht ihn richtig. Immerhin hat Olaf in seiner Juso-Zeit auch ein bisschen Marxismus gelernt. Die Überzeugungen sind weggesäubert; aber die Instrumente und Fähigkeiten bleiben nützlich.
Die Welt da draussen wird in Deutschland nicht verstanden
Kürzlich war Staatsbesuch in Berlin. Der Hindufaschist Narendra Modi, so eine Art “Putin/Erdogan/Trump” von Indien, beehrte Olaf Scholz. Ich gehe davon aus, dass sich ein Bundeskanzler, und dieser besonders, darauf professionell vorbereiten lässt, und also kapiert, welche Nachrichten ihm der Staatsgast überbringt. Er wird also das kennen, worauf ich Sie jetzt hinweise. Und der geschätzte Wolfgang Storz hat das nach meinem oben geschilderten Eindruck nicht wahrgenommen.
Zum Einen ist da das, was die USA derzeit machen. Majid Sattars FAZ-Analyse wurde digital eingemauert. Aber Thomass Pany/telepolis liefert die gleichen Informationen: “USA: Hilfspaket von über 50 Milliarden US-Dollar an die Ukraine – Der Senat muss noch abstimmen, eine Überraschung wird nicht erwartet. Die Kosten-Nutzen-Rechnungen laufen auf eine Verlängerung des Ukraine-Kriegs hinaus”. Adam Tooze’s Analyse im Freitag/Guardian, auf die ich vorgestern hingewiesen hatte, erweist sich – leider – als völlig richtig.
Ein völlig blinder Fleck in Storz’ Weltbetrachtung sind die Perspektiven ausserhalb Europas. Lateinamerika haben wir hier und hier im Extradienst schon mal erwähnt. Noch blinder ist der deutsche Indien-Fleck (ausser beim Kanzler). “Wie Indien und China auf den Ukraine-Krieg reagieren – Die EU möchte russische Energieexporte schmälern. Doch die Marktentwicklung in Asien zeigt einen anderen Trend auf” schreibt bei telepolis M. K. Bhadrakumar, ein langjähriger indischer Diplomat. Das wirkt effektvoll ergänzt durch Chris Ogden/Makroskop: “Asiens Chamäleon: Wie Indien eine neue Weltordnung schafft – Ist Russland international isoliert? Tatsächlich nimmt der größte Teil der Welt im Ukraine-Krieg entweder eine pro-russische oder neutrale Haltung ein. Und Indien könnte zum Game-Changer einer neuen multipolaren Ordnung werden.” Bei Makroskop müssen Sie ein bisschen mit der Benutzeroberfläche kämpfen, um den vollen Text zu lesen. Und sich beeilen, weil er vielleicht später in der Paywall verschwindet.
Bemerkenswert an diesen – inhaltlich und strategisch erregenden! – Texten ist, dass sie auf Gut-und-Böse-Missionarismus komplett verzichten, die Problematik der sich ausbreitenden Despotenregimes nicht ignorieren sondern sogar ausleuchten, um aber dennoch bei einer hartnäckigen Realismusschule bei der Betrachtung der miteinander rivalisierenden Interessen zu bleiben. So geht Aussenpolitik. Es gab schon mal deutsche Aussenminister, die dieses Handwerk beherrschten; links waren sie nicht.
Das Schlimme daran ist, wenn Despotenregimes dieses Handwerk weit besser beherrschen als Demokratien. Letztere machen sich so selbst zu Verlierer*inne*n und Opfern. Markant, wie die EU bspw. in Indien gar nicht mehr ernstgenommen wird. Dass es so weit kommen musste, das ist wirklich schlimm.
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