Eine gute Freundin von mir hat sich jüngst nach dem ersten und vor dem zweiten Wahlgang in Brasilien aufgehalten. Seit über dreißig Jahren besucht sie das Land regelmäßig und pflegt viele enge Freundschaften dort.
1. Wo ist der Wahlkampf?
Wir hatten erwartet, dass Brasilien zugeklebt ist mit Plakaten der zwei Bewerber um die brasilianische Präsidentschaft. Wir hatten mit großen Wahlkampfveranstaltungen gerechnet und uns darauf eingestellt, unsere brasilianischen Freund*innen bei ihrem Einsatz für Lula zu unterstützen. Tatsächlich hängen nirgendwo Plakate von Lula oder Bolsonaro.
Im öffentlichen Raum sieht man die Gesichter der beiden Kandidaten vor allem auf Buttons oder T-Shirts, die von Straßenhändlern verkauft werden. Vereinzelt hängen Fahnen mit dem Namen von Lula aus Autofenstern oder an Hauswänden. An “meiner” Metrostation im Stadtteil Copacabana bemühen sich manchmal drei Frauen, Lula-Devotionalien unter die Menschen zu bringen.
Anders sieht es aus bei den rauschenden Sambaparties in Lapa oder Pedra do Sal, die inzwischen auch von Trip Advisor und im Lonely Planet beworben werden: Dort skandiert die tanzende, trinkende und kiffende Menge nach jedem Sambastück minutenlang “Lula, Lula” und “Fora Bolsonaro” (Weg mit Bolsonaro). Ob damit aber auch nur eine zusätzliche Stimme für den Kandidaten der Arbeiterpartei gewonnen wird, wage ich zu bezweifeln, denn Bolsonaro-Anhänger*innen sind dort so selten wie Schnee in Brasilien.
“Am schlimmsten finde ich, dass wegen Bolsonaro die brasilianische Fußballmannschaft bei der WM in Katar nicht im gelb-grünen Trikot spielen wird”, empört sich mein Freund Marcílio, ein linker Patriot. Ob die Seleção in Kürze tatsächlich im ungewohnten Blau auflaufen wird, weiß ich nicht. Aber dass für viele Brasilianer*innen die brasilianischen Nationalfarben gelb und grün inzwischen für Bolsonaro stehen, ist offensichtlich. Bei seinen Auftritten jubelt ihm fahnenschwenkend ein gelb-grünes Heer von Anhänger*innen entgegen.
2. Es gibt ihn, den Wahlkampf!
Die Wahlwerbespots im Fernsehen überbieten sich mit Bildern von Menschenaufläufen bei Auftritten der beiden Kandidaten. Bei Lula sind es vor allem Auftritte im Nordosten von Brasilien, in denen er beim ersten Wahlgang überdurchschnittlich abgeschnitten hat. Dazu trägt nicht nur seine Herkunft bei, sondern auch die rassistischen Beleidigungen der Nordestino/as durch Bolsonaro.
Vor einigen Tagen wurde ich unerwarteterweise Zeugin eines Bolsonaro-Auftritts, als ich meine Freundin Rosangela in Duque de Caxias besuchen wollte, einer der großen Satellitenstädte rund um Rio. Kaum war ich aus dem Bus gestiegen, wurde ich von einer Menge gelbgrün gekleideter Menschen mitgerissen und landete an der Absperrung zu dem Platz, auf dem Bolsonaro sprach. Der Platz war längst wegen Überfüllung gesperrt. Vor und neben mir standen drei offen waffentragende Anhänger Bolsonaros. Nach dem Ende seiner Rede bestieg er mit Schutzweste einen offenen Bus und wurde von begeisterten Fans mit Feuerwerk und aggressiver Musik ein Stück weit begleitet. Das ganze Spektakel glich eher einem Rockkonzert oder Papst-Auftritt als einer Wahlkampfveranstaltung.
Mit meiner Freundin Rosangela war an dem Tag nichts mehr anzufangen: “Wir sind die einzigen hier in der Straße, die nicht Bolsonaro wählen. Dabei sind alle Nachbarn wie wir schwarz und arm. Wieso nur wählen die einen Rassisten wie ihn?”: “Hier, hast Du schon gelesen? Beim warten am Busbahnhof in Porto Alegre beobachte ich, wie ein Taxifahrer sein Handy einem Kollegen vorhält und empört sagt: “Lula isst jeden Tag Churrasco!” Churrasco ist nicht nur eine äußerst leckere Zubereitungsart von gegrilltem Fleisch, sondern ein soziales Ereignis, zu dem gerne Freund*innen und Nachbar*innen eingeladen werden. Viele Brasilianer*innen können sich das jedoch schon lange nicht mehr leisten.
Auf WhatsApp, Facebook, Instagram etc. scheint der tatsächliche Wahlkampf stattzufinden. Das Smartphone ist schon alleine wegen der einfachen Bezahlmöglichkeiten, die es bietet, omnipräsent im Leben der meisten Brasilianer*innen. Selbst die Barzahlung von Kleinstbeträgen wird verweigert und der Verkäufer von Krabbenspießen am Strand ist fassungslos, dass ich nicht über das elektronische Bezahlsystem Pix verfüge.
In den sozialen Medien gestern unendlich viele Gerüchte über die beiden Kandidaten und den Wahlkampf herum. Was stimmt und was nicht? Ich weiß es nicht. Sehr echt allerdings ist die Angst vieler Lula-Anhänger*innen, bei Bolsonaro- Auftritten zu erscheinen und sich dort selbstbewusst als Lula-Wähler*in zu zeigen. Ob alle Berichte so zutreffen, weiß ich nicht. Immer wieder wird von verletzten oder gar getöteten Lula-Unterstützer*innen berichtet. Aber echt sind die Drohungen, die Bolsonaro gegen Lula-Anhänger*innen ausstößt. Und echt sind die Waffen, von denen dank Bolsonaros Liberalisierung der Waffengesetze noch mehr als früher in Brasilien kursieren.
Letzte Kommentare