91,1% Wahlbeteiligung – weil die Linke in Deutschland für Frieden und Entspannung kämpfte

Albrecht Müller halte ich heute für einen – leider – verbitterten, alten, weissen Mann, Alterspräsident eines linkskonservativen Sahra-Wagenknecht-Fanclubs. Schade, denn er kann eine grosse Lebensleistung vorweisen: sein führende Mitwirkung am grössten SPD-Wahlsieg ihrer gesamten Parteigeschichte 1972. Ich war 15, und trug sonntags in der katholischen Kirche, die mit verlesenen aufwiegelnden reaktionären Hirtenworten zur Wahl der CDU zu mobilisieren versuchte, demonstrativ einen “Willy wählen”-Button an der Jacke.

Über die Katholische Kirche wissen wir heute mehr, viel Gutes kam nicht dazu. Samstag vor 50 Jahren war der Wahlsonntag; gestern vor 50 Jahren die “Elefantenrunde” in ARD und ZDF, mit Einschaltquoten, von denen jede Fussball-WM nur träumen kann. Müller beschreibt das damalige Geschehen treffend. Angesichts heutiger Aufregungen und Streits möchte ich hervorheben, dass die Menschen seinerzeit für Frieden und Entspannung mit den “sozialistischen Ländern” kämpften, diskutierten, ja sogar “politisch” streikten – was nach deutschem Recht illegal war (und ist). Streiks für die Regierung! Niemand wollte “rübergehen”, niemand hielt den “real existierenden Sozialismus” für eine bessere Lebensform. Aber ebenso wollte niemand deswegen in irgendeinen Krieg ziehen. Davon hatten die damaligen Westdeutschen mehr als genug, und die Nase davon voll. So wohl wie damals habe ich mich in unserem Land nur noch beim Volkszählungsboykott 1987 und bei den Friedensdemos 1981-83 gefühlt. Es war ein Gefühl von Volksmacht. Die waren “wir”. Und der Albrecht Müller von damals kannte was davon.

Sein oben verlinkter heutiger Text zeigt an seinem Ende, in welcher Sackgasse der Arme gelandet ist. Ich habe auch nicht die strategische Lösung. Wenn ich die hätte, wäre ich heute reich und mächtig. Tatsächlich bin ich Rentner, mit Spass am Bloggen und gutem Leben im reichen Deutschland. Meine Empfehlung: mehr von den jungen Menschen lernen, und wir alte weisse Männer vor allem von den jungen weltzugewandten Frauen. Viele von ihnen haben wir, als wir noch jung waren, testosterongetrieben übersehen. Das ist heute nicht mehr möglich. Und gut so.

Wir wissen und erfahren heute ein Vielfaches von der Welt, als es damals möglich war. Mehr, als die meisten von uns verkraften können und wollen. Letzteres ist legitim, vor allem im Alter. Aber wer nicht lernen will, sollte Schweigen und Zuhören üben, auf Belehren dagegen radikal verzichten. Es geht.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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