Ende September stellte die Bundesregierung einen 140 Seiten starken Gesetzentwurf vor, der in Umsetzung einer EU-Richtlinie eine deutliche Erweiterung des Verbandsklage­rechts bringen soll. Dieses Rechtsinstrument ist seit 2002 im Bundesnaturschutzge­setz und seit 2006 im Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz geregelt. Demnach haben Natur­schutz- und Umweltverbände die Möglichkeit, gegen bestimmte umweltrechtliche Zulassungsent­scheidungen für Industrieanlagen und Infrastrukturmaßnahmen gerichtlich vorzu­gehen. Vor­aussetzung dafür ist, dass diese Verbände als Umwelt- oder als Naturschutzvereinig­ungen anerkannt sind. Lange hatten die Verbände dafür kämpfen und manche Niederla­ge bei Gericht hinnehmen müssen. Inzwischen ist die Erfolgsquote der Umweltverbandsklage laut Umweltbundesamt sehr hoch. Für den Zeitraum von Ende 2006 bis Ende 2016 lag sie bei 48 Prozent und im Zeitraum 2017 bis 2020 sogar bei 52 Prozent.

Grundsätzlich gilt, dass jemand, der sich durch staatliche Entscheidungen in seinen Rech­ten beeinträchtigt fühlt, dagegen Widerspruch einlegen und ggf. vor einem Verwaltungsge­richt klagen kann. Dank des Verbandsklagerechts kann auch ein Umwelt- und Natur­schutzverband tätig werden und vor Gericht ziehen, wenn er selbst nicht in seinen Rech­ten verletzt wird. Häu­figster Anlass sind Bauvorhaben, bei deren Umsetzung es zu Auswir­kungen auf Natur und Umwelt kommt. Erfasst sind beispielsweise die Zulassung von In­dustrieanlagen, Anlagen zur Abfallverbrennung und Energieerzeugung, wasserrechtliche Genehmigungen oder Planfeststellungsverfahren für Deponien oder Autobahnen.

Im Koalitionsvertrag bekennen sich die Ampelfraktionen zur Verbandsklage und kündi­gen einen Ausbau der kollektiven Rechtsschutzinstrumente an, auch für Kapitalanleger. Eine Einengung der Handlungsmöglichkeiten, wie sie z.B. CDU/CSU für die Deutsche Um­welthilfe fordert, ist nicht vorgesehen. Die Ende 2020 beschlossene EU-Verbandsklage­richtlinie, die weitergehende Sammelklagen ermöglicht, soll anwenderfreundlich umgesetzt werden.

Die EU-Richtlinie schafft Handlungsrechte für sogenannte „qualifizierte Einrichtungen“, also Verbraucher-, Naturschutz-, Umwelt- und Gesundheitsverbände. Diese können die Klagen von vielen Betroffenen bündeln und Ansprüche auf Abhilfe, Schadensersatz, Preisminderung, Nachbesserung, Umtausch oder Vertragsauflösung einklagen, auch grenzüberschreitend innerhalb der EU. Zu den Verbraucherbelangen zählen Bereiche wie Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reiseverkehr und Tourismus, Umwelt und Energie, Telekommunikation und digitale Dienstleistungen sowie Produkthaftung.

Zwar sind bereits seit 2018 Musterfeststellungsklagen möglich, doch muss der einzelne Verbraucher seinen Anspruch nach Klärung der Grundfrage noch individuell vor Gericht einklagen. Musterfeststellungsklagen können jedoch durchaus wirkungsvoll sein. So mün­dete die Dieselklage gegen VW rasch in einen Vergleich. Im Januar 2022 waren 23 Mus­terfeststellungsklagen anhängig. Künftig sollen die Verbraucherverbände solche Ansprü­che unmittelbar geltend machen können. Die Musterfeststellungsverfahren werden daher in das neue Gesetz inte­griert – mit Ausnahme des Kapitalanleger-Musterverfahrensgeset­zes.

Die neuen „Abhilfeklagen“ sollen laut Regierungsvorlage zulässig sein, wenn von einem Problem mindestens 50 Verbraucher/innen betroffen sind und ihr Anspruch weitgehend „gleichartig“ ist. Nach oben gibt es keine Grenze. Wer von der Klage profitieren will, muss sich in ein Verbandsklageregister eintragen. Der betroffene Verbraucher entscheidet also selbst, ob er bei diesem Verfahren mitmacht. Der kollektive Gesamtbetrag, den das Ge­richt festlegt, fließt in einen Umsetzungsfonds. Ein Sachwalter übernimmt dann die Aus­zahlung bzw. anderweitige Regelung.

Die Klage soll für die einzelnen Verbraucher kostenlos sein, auch wenn der Verband vor Gericht scheitert. Laut EU soll das Instrument der Abhilfeklagen dafür sorgen, ein Gleich­gewicht zwischen der Stärkung kollektiver Verbraucherinteressen und dem Schutz der Unternehmen vor missbräuchlichen Klagen zu schaffen. Zudem soll die Justiz von mas­senhaften Einzelklagen entlastet werden, weil künftig nicht mehr jeder einzelne An­spruch geprüft werden muss.

Laut EU-Vorgabe muss die Richtlinie bis zum 25.12.2022 umgesetzt werden. In techni­scher Hinsicht hat die Bundesregierung ein anspruchsvolles Vorhaben auf den Weg ge­bracht. Zum Beispiel könnten Probleme bei der Auslegung zu erwarten sein, inwieweit die zusammengefassten Ansprüche „gleichartig“ sind. Derzeit wird die Vorlage in der Wirt­schaft und bei den Verbänden intensiv geprüft. So hat z.B. der Bundesverband der Ver­braucherzentralen eine Begrenzung des Kostenrisikos für die klageführenden Verbände, die Möglichkeit einer späteren Anmeldung zum Klageregister und eine automatische Ver­jährungshemmung für alle Betroffenen angeregt.

Ausblick: In den USA geht die Diskussion um Sammel- und Verbandsklagen schon einen Schritt weiter. So wird angeregt, der Natur Rechte einzuräumen, die denen der Menschen oder Unternehmen ähneln. Dann könnte beispielsweise ein Fluss, vertreten durch eine qualifizierte Institution, gegen den Bau eines Staudamms klagen. Ob wir das noch erle­ben?

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.