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Olaf Scholz und seine “Zeitenwende” – Zu heißen und Kalten Kriegen (USA, Deutschland/ EU, Russland, Ukraine)

„Olaf Scholz: The Global Zeitenwende“

Untertitel: Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann

Mit dieser Aufmachung erschien in der Januar/Februar-Ausgabe 2023 von Foreign Affairs ein langer Artikel des deutschen Bundeskanzlers.

In der englischen Fassung wird die „Zeitenwende“ im ersten Satz charakterisiert als eine „epochale tektonische Verschiebung“, im Deutschen steht sie für sich.

In der englischen Sprachfassung verwendet Scholz anschließend durchgehend das deutsche Wort. Die Absicht ist klar: Möge die „Zeitenwende“ in die Welt hinausfliegen, scheinbar unübersetzbar und zu einem neuen Begriff werden in anderen Sprachen, so wie beispielsweise „German Angst“, „le Waldsterben“, „verboten“.

Nicht der „Epochenbruch“ des Bundespräsidenten, die „Zeitenwende“ des Bundeskanzlers soll erinnert werden. Zwar hat das niemand bestellt, aber Scholz beansprucht sprachliche Führung.

Ob und wie sich die Welt darauf einlässt, bleibt abzuwarten.

Das gilt allerdings auch für den langen Rest des übrigen Textes. Er ist nur in einer Frage stringent: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine markiert das Ende einer Ära.

(Auch wenn im Verständnis von Scholz die Zeitenwende ebenfalls damit verbunden ist, dass Multipolarität entsteht.).

Die Blockbildung und der Kalte Krieg, den Scholz vermeiden will, sind Realität. Eine neue Idee, wie eine europäische Friedensordnung entstehen könnte oder beschaffen sein müsste, hat er nicht.

Am einfachsten ist das Weltbild des deutschen Bundeskanzlers zu fassen, wenn es um Russland geht. Es ist das der USA, genauer gesagt, der Neokonservativen in den USA: Russland ist revanchistisch und imperial geworden, es will die Welt in Blöcke aufspalten. Damit darf es nicht durchkommen.

Scholz Blick auf die Entwicklungen im Verhältnis mit Russland ist simpel: Alle wollten Partnerschaft, die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges auskosten, aber Russland wurde aggressiv. Erst hielt Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 eine „aggressive“ Rede, im Jahr darauf führte Russland Krieg gegen Georgien (Anm.: Georgien hat zuerst geschossen) und von da an ging es nur noch steil bergab bis zum 24.02. 2022, bis zur Rückkehr des russischen Imperialismus nach Europa. Es gibt nichts in diesen Jahren, was Russland richtig machte, nichts, was andere falsch machten.

Umgekehrt hat laut Scholz die NATO glücklicherweise immer Bündnissolidarität geübt. Wegen der Balkan-Kriege und der Nachwirkungen des 11. September (Afghanistan, Irak) verschob sich der Fokus auf regionale Krisenbewältigung. Die Bundeswehr schrumpfte. 20 Jahre hat auch Deutschland in Afghanistan gegen den internationalen Terrorismus mitgekämpft.

Auch das steht schlicht und einfach im Raum, so als hätte es nie den NATO-Einsatz gegen Serbien gegeben, nie ein deutsches Nein zur direkten Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg der „Koalition der Willigen“ gegen den Irak, nie eine deutsche Nichtbeteiligung im Fall von Libyen, nie ein Zweckbündnis der USA/des Westens mit Al Qaida in Syrien, nie den fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan, wo heute wieder die Taliban schalten und walten.

Schwarz-weiß ist schon besser geredet und geschrieben worden. Ob man in der „Zeitenwende“ so auf der Weltbühne bestehen kann, wenn man kein amerikanischer Präsident ist?

Aber Scholz geht es nicht nur um seine Geschichtsversion, es geht ihm vor allem darum, dass Deutschland jetzt führen will in “Europa”, zunächst einmal auch militärisch, als „Garant“ europäischer Sicherheit, gegen das aggressive Russland. Es muss aufgerüstet und im Rahmen der EU auch besser koordiniert werden. Wie Biden will er keine direkte militärische Konfrontation mit Russland, aber mit ihm steht Deutschland klar zur NATO-Beistandsgarantie (Artikel 5 ist kein Automatismus, aber das nur am Rande.).

Russland ist aus der Sicht von Scholz der „potentielle“ Angreifer auf NATO-Territorium. Es geht also um Gegnerschaft, wegen der russischen Bedrohung. Tatsächlich ist der Kalte Krieg längst wieder da und wird durch die im Artikel beschriebene Politik nun auch noch zementiert.

Richtig kompliziert wird der Scholz-Text erst, wenn es um die multipolare Welt, die regelbasierte Ordnung und um die USA geht. Scholz kann sich nicht entscheiden: Führen die USA nun die Welt an? Laut Scholz ist das 21. Jahrhundert ein amerikanisches. Die USA bleiben die „bestimmende Weltmacht“. Gleichzeitig glaubt er nicht, dass sich nun zwei Pole gegenüberstehen müssen (USA und China). Es ginge auch anders. Da er an anderer Stelle die amerikanische Sicherheitsdoktrin zitiert, hat er sie offenbar gelesen. Dort wird allerdings neben Russland auch die strategische Rivalität zu China fixiert.

Ist die regelbasierte Ordnung nun das, was in der UN-Charta bzw. im UN-System verankert ist, oder das, was der Westen zur Regel erklärt? Wenn es ihm um die UN-Charta ginge, dann könnte Scholz die ganze Theorie der „Zeitenwende“ nicht mehr aufrechterhalten, denn das Einzige, was diese neue Ära charakterisiert, ist, dass die UN-Charta zwar von allen zitiert wird, aber es derzeit nur China und viele nichtpaktgebundene Staaten sind, die konsequent auf ihre Erfüllung drängen. Scholz verurteilt den russischen Bruch der Charta, aber erwähnt mit keinem Wort, dass das leider kein Alleinstellungsmerkmal Russlands ist.

Es ist sehr schwer, sich die Welt vorzustellen, die Scholz vorschwebt: Er will keine Blöcke, er will eine stärkere EU (mit einer stärkeren deutsch-französischen Rolle darin), er will die Führungsrolle der USA, er will Netzwerke von Demokratien, er will China als was? Nicht isoliert, aber auch nicht mit kontinentalen oder gar globalen Machtansprüchen. Wie würde es China richtig machen, das andererseits sowieso nicht sehr viel richtig macht/machen kann?

Gleichzeitig will nun Scholz die Hand ausstrecken, pragmatisch sein, auch gegenüber Ländern, die keine Demokratien sind. Das soll jetzt werden, bisher hat das mit der Partnerschaft nicht so geklappt.

Scholz will Deutschland beteiligen an einer europäischen Friedensordnung, wenn Russland den Krieg verloren hat. Aber im Moment will er Deutschland und Europa aufrüsten gegen das imperiale Russland, das in der multipolaren Welt des Bundeskanzlers allenfalls als Hauptfeind gesetzt ist.

Durchdacht wirkt das alles überhaupt nicht.

Scholz äußert sich auch zur westlichen Sanktionspolitik gegenüber Russland. Die ist im UN-Regelwerk so nicht vorgesehen, sie ist Teil „der regelbasierten Ordnung“. Laut Scholz ist sie langfristiger Natur. Natürlich wird sie nicht als Waffe definiert, aber schon mit der Drohung verbunden, dass Putin sich darüber im Klaren sein müsse, dass er nicht versuchen sollte, „die Bedingungen eines Friedensabkommens zu diktieren“. Scholz dagegen stellte wie selbstverständlich Bedingungen auf.

Für ihn ist dann ein „gerechter Frieden“ in der Ukraine erreicht, wenn alles so kommt, wie der ukrainische Präsident es fordert. Der fordert das, was die USA fordern: volle Herstellung der territorialen Integrität der Ukraine in den Grenzen von Anfang 2014 und Sicherheitsgarantien.

Im Augenblick ist allerdings unklar, wegen einer Äußerung des US-Außenministers, ob die Rückgabe der Krim noch zu den US-Forderungen gehört. Bei Scholz ist die Krim im Paket. Die NATO-Perspektive dagegen ist verschwunden.

Aber ganz grundsätzlich: Wie gehen ein „gerechter“ Frieden für die Ukraine und ein Russland, dass potenziell die NATO angreifen könnte, überhaupt zusammen?

Der Bundeskanzler nutzte die COVID-Politik als Beispiel, dass Demokratien sich als die besseren Pandemiebewältiger im Verhältnis zu Autokratien herausgestellt hätten:

„Die wirksamsten COVID-19-Impfstoffe und -Arzneimittel wurden alle in freiheitlichen Demokratien entwickelt. Darüber hinaus verfügen Demokratien, im Gegensatz zu autoritären Staaten, über die Fähigkeit zur Selbstkorrektur, da Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung frei äußern und ihre politischen Führungskräfte frei wählen können.“

Das ist recht kühn, zumal die COVID-Politik der Bundesregierung nicht aufgearbeitet und die Pandemie nicht am Ende ist. Dass China inzwischen den Kurs korrigierte, war jedenfalls bei Scholz nicht eingepreist. So wie Scholz auch nicht sieht, dass er möglicherweise selbst zum Opfer von Desinformation wurde, weil nicht mehr Wissenschaft (die Suche nach Erkenntnis) den öffentlichen Diskurs bestimmte, sondern das, was sich für DIE WISSENSCHAFT hielt, die Meinungsführerschaft beanspruchte. Wirksam waren die Impfstoffe definitiv, besonders die neuen mRNA-Impfstoffe, nur nicht im versprochenen Sinn (Impfen = Pandemieende).

Der Bundeskanzler erklärte ebenfalls, warum wir die Energiekrise haben (wegen Russland), und dass die Sabotageakte an NordStream unterstrichen hätten, dass Deutschland und „Europa“ (also Europa als Synonym für die EU) seine Energie-Versorgungsquellen diversifizieren müssen.

Zur aktuellen US-Führung findet sich an anderer Stelle der ganz grundsätzliche Satz:
“US-Präsident Joe Biden und seine Regierung verdienen Anerkennung dafür, dass sie auf der ganzen Welt starke Partnerschaften und Bündnisse aufbauen und in diese investieren.“

Gilt das auch für den Wirtschaftskonflikt wegen „America first“, die exorbitanten US-LNG-Preise? Weiß der Bundeskanzler zur Sabotage von NordStream etwas, was die Öffentlichkeit nicht weiß?

Laut Artikel gibt es keine Wölkchen am transatlantischen Himmel.

Scholz ist sich sicher: die russische Invasion hat die EU gestärkt. Angesichts der düsteren Stimmung zum Tag der Einheit ist das ein schönes Zeichen von neu gefundenem Optimismus.

Der Deutschlandfunk sendete am 8. Dezember 2022 einen kurzen Bericht aus Ludwigshafen. In der Anmoderation hieß es, man wolle darüber berichten, wie gerade ärmere Menschen, die offenbar Ludwigshafen zuhauf bevölkern, die Energiekrise „stemmen“. Er dauerte knapp 5 Minuten.

Die sollte der Sozialdemokrat und Bundeskanzler im Zeitbudget haben, um reinzuhören: „Deckenzeit“ in Schulen? (Damit Schüler nicht frieren im Unterricht, hüllen sie sich in Decken.), Suppenküchen zum Aufwärmen? Menschen, die Angst vor der nächsten Energieabrechnung haben? Menschen, die nicht wissen, wie sie das schmale Säckel strecken sollen, um Mieterhöhung, die drastisch gestiegenen Lebensmittel- bzw. Energiepreise unter einen Hut zu kriegen?

So bot der Deutschlandfunk einen winzigen Einblick in Politikfolgen, die nicht vom Himmel fielen. Diese Menschen befinden sich nicht in so einer erbärmlichen Lage, weil sie das für die Ukraine tun oder im Widerstand gegen Putin sind. Die deutsche Politik hat ihnen das angetan, weil sie sich auf eine umfassende Konfrontation mit Russland einließ, ohne die Folgen des Handelns genau zu überblicken.

Scholz spricht sich für neues Denken aus. Damit es nicht zu Blockbildungen kommt. Ob zufällig oder nicht, da Deutschland gerade hochrüsten will, fällt kein Satz zur notwendigen Abrüstung, und auch keiner, dass die Atomkriegsgefahr gestiegen ist. Denn auch Scholz verortet die Bedrohung nur auf einer Seite: Putin. Dass die atomare Abschreckung zwei Parteien hat, sieht er nicht, will er nicht sehen. Die “Teilhabe” ist ihm wichtiger: Wenn es denn losginge, wäre auch deutsches Militär dabei.

Scholz zählt in seinem Artikel ebenfalls mutmaßliche russische Kriegsverbrechen in der Ukraine auf: darunter Butscha, Kramatorsk. Wörtlich heißt es: „Diese Orte werden die Welt auf ewig an Russlands Verbrechen erinnern – und die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Kriegsverbrecher sollten zur Rechenschaft gezogen werden, und zwar allesamt, aber nicht durch politische Verkündigung, sondern in sauberen juristischen Verfahren. Auch das verhindert der aktuelle Krieg, in dem Kriegsverbrechen stattfinden, leider nicht nur auf einer Seite. Sauber aufgearbeitet ist gar nichts.

Wenn man Olaf Scholz Gedanken jedoch weiterspinnt, und er ist sehr dezidiert formuliert, dann gibt es wahrscheinlich in Europa, von Deutschland aus betrachtet nach allen vier Himmelsrichtungen, aber insbesondere Richtung Osten überhaupt keinen Ort, der nicht „auf ewig“ an deutsche Verbrechen des Nazi-Regimes erinnert.

Nicht alle wurden gerichtet.

Nur die europäische Integration ermöglichte, ein „auf ewig“ zu verbinden mit einem „nie wieder“, was Deutschland eine neue Chance in der Welt gab. Dass dieser Gedanke bei Scholz völlig fehlt, der sich einigelt in ein dauerhaftes Bedrohungsszenario durch Russland, ist politisch nicht nur kurzsichtig. Es macht nachdenklich und beschämt angesichts der deutschen Geschichte.

PS:

Seit wenigen Tagen ist es in der Ukraine legal, die Symbole der SS-Division „Galizien“ zu benutzen. Die seien nicht Nazi.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.

2 Kommentare

  1. w.nissing

    eher als Ergänzung gedacht, aber vll kann der Blogadmin den Text ja in die Headline heben
    https://www.medico.de/blog/ein-weltweites-kriegsregime-droht-18900

    • Martin Böttger

      Ja, dieses Interview habe ich gestern Abend auch gelesen, tatsächlich sehr lesenswert.

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