mit Update 23.12.

Der heutige Vormittag wurde mir mit britischem Humor verschönert. Der UK-Korrespondent der taz Daniel Zylbersztajn-Lewandowski hat mich darauf hingewiesen. Angesichts des Ausmasses der Konfrontation, angestachelt durch die Unfähigkeit der politischen Klasse in London, wundere ich mich wie so oft über die Geringfügigkeit des inländischen Medienrauschens. Sollen unsere Gewerkschaften auf “keine dummen Gedanken” kommen?

Im United Kingdom wird vorweggenommen, was uns noch erwartet. Das Brexit-Chaos wird auch die EU noch erleben, nur etwas später, dafür einige Nummern grösser. Hier ein wenig beachteter Vorbote. Die EU sperrt sich so gegen Einwanderung wie das Brexit-UK – nur dass sie auch über Festland erreichbar ist. Ihre narzisstische Aussenpolitik ist von der UKs kaum zu unterscheiden. Insbesondere ökonomisch nicht.

Die Sozial- und Arbeitskonflikte, die im UK – von deutscher Öffentlichkeit kaum wahrgenommen – schon seit Monaten toben, sie werden das europäische Festland und die deutsche Wohlstandsinsel alle noch erreichen. Mit absehbaren Auswirkungen auf hiesige Infrastrukturen. Ein kultureller Unterschied mag sein, dass deutsche Gewerkschaften weniger kampfbereit sind, und deutsche Arbeitende es in individual-depressiver Weise vorziehen krank zu werden, statt kollektiv zu kämpfen. Wirkungen der neoliberalen Erziehung ähnlich der Selbstoptimierungs-Epidemie.

Nun ist auch noch ein britischer Held meiner politischen Jugend gestorben: Terry Hall. Er war mir kein Lionel Messi vergleichbarer Messi(as), sondern Teil einer kämpfenden Infrastruktur von Bands, die taz-Porträtist Ulrich Gutmair dankenswerterweise aufzählt. Er versäumt jedoch – typisch links-depressiv – den grössten Erfolg zu benennen, den Millionen, vielleicht Milliarden Menschen in ihrer Lebenszeit erkämpft haben: den Sieg über das (mit deutscher Hilfe) atomar bewaffnete Apartheidregime in Südafrika, das sich heute für die meisten mit dem Namen Nelson Mandela verbindet.

Terry Hall und seine Bands gehörten zum organisierenden Kern des Wembley-Konzerts 1988 (endlich, endlich auf YouTube) für die Freilassung des politischen Häftlings Mandela. “The whole world’s watching!” brüllte nicht nur seine Band Special AKA, sondern mutmasslich weltweit ähnlich viele TV-Zuschauer*innen wie bei einem WM-Finale. Das Konzert veränderte die globalen Machtverhältnisse. Die Freunde der Rassisten in den unterstützenden Grossmächten gerieten unter Druck. Die Verhandlungsposition von Mandelas ANC wurde so gestärkt, dass er ohne Bürgerkrieg demokratisch die Regierungsmacht eroberte. Der Kompromiss mit dem damaligen real existierenden Kapitalismus war, dass er ihn nicht revolutionär beseitigte. Das hat hunderttausende Menschenleben gerettet, die sonst einem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen wären. Das war eine strategische Weisheit, die heute bitter vermisst wird – weltweit, nicht nur in Südafrika.

Mit Hall ist einer von den Guten im UK gestorben, ein politischer Musiker im besten Sinne. Aber wer kann nur diese sinkende Insel retten?

Update 23.12.

Sicher, “es” ist ja alles schon seit Dickens bekannt. Aber er ist schon seit über 150 Jahren tot. Die Brexit-Tories halten ihn am Leben. Gabi Biesinger und Manfred Götzke/DLF über “Essen oder Heizen” (Audio 7 min).

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net