Eine Niederlage Russlands bringt noch keinen Frieden – Was würde eine Niederlage Russlands in der Ukraine bedeuten? Der Westen versperrt sich dieser Frage. Dabei gibt es kluge Wege, um einem Frieden zumindest näherzukommen.
Viel ist derzeit von Sieg und Niederlage die Rede, was den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine angeht. Beide Begriffe scheinen recht eindeutig: Ein Sieg der Ukraine würde bedeuten, die russischen Invasionstruppen vom illegal besetzten Territorium zu vertreiben. Eine Niederlage hieße: Kyjiw wird besetzt, ein moskaufreundliches Regime installiert, die politische Opposition verfolgt und die Ukraine in ein zweites Belarus verwandelt.
Derzeit spricht einiges dafür, dass sich der Krieg über Jahre verstetigt, mit einem ständigen Wechsel abflauender und aufwallender Phasen. Andererseits rechnen auch viele Beobachter:innen langfristig mit einer Niederlage Russlands. Dieses Szenario wird aber meist nicht weiter ausbuchstabiert und bleibt vage. Was würde es bedeuten, dass „Russland verliert“? Und welche Folgen hätte ein geschlagenes Russland für die europäische Nachkriegsordnung?
Jenseits des Völkerrechts
Die öffentliche Debatte antwortet meist in der Sprache des Völkerrechts. Der russische Völkerrechtsbruch müsse rückgängig gemacht, die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden – im Idealfall vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Die Betonung der für westliche Staaten konstitutiven Völkerrechtsperspektive ist notwendig und nachvollziehbar. Gleichzeitig blendet sie die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen einer russischen Niederlage aus.
Die Art der Niederlage, die Russland erfahren soll, wird aber nicht nur über das Schicksal Russlands, sondern auch über die Sicherheit der Ukraine und die Stabilität der europäischen Nachkriegsordnung entscheiden.
Bereits verloren?
Glaubt man dem französischen Präsident Emmanuel Macron, so hat Russland sowieso bereits verloren. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 legte er dar, dass mit dem Scheitern von Russlands ursprünglichem Invasionsplan auch die imperiale Weltsicht Putins eine Niederlage erfahren habe. Die Ukraine sei nun dabei, ein Teil der europäischen Wertegemeinschaft zu werden. Russland habe seinen Status als anerkannte Großmacht verloren. Dazu kommt eine moralische Niederlage durch die mehrheitliche Verurteilung der russischen Aggression durch die Weltgemeinschaft, wenngleich sich ein Großteil der Staaten im Globalen Süden den westlichen Sanktionen bis heute nicht angeschlossen hat.
Ungeachtet all dieser Rückschläge steht die konkrete militärische Niederlage Russlands, wenn es denn zu ihr kommen sollte, noch bevor. Wozu würde eine drohende Niederlage führen? Zu einem Dauerkonflikt? Einer – womöglich nuklearen – Eskalation? Einem mittelfristig noch aggressiveren Revanchismus Russlands mit neuen Gefahren für seine Nachbarn und den europäischen Frieden? Was müsste geschehen, damit ein besiegtes Russland auch ein friedliches Russland wäre?
Wir skizzieren hier zwei Sichtweisen auf dieses Szenario und seine möglichen Folgen. Sie unterscheiden sich aufgrund unserer unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze deutlich voneinander. Dennoch kommen wir zum gemeinsamen Schluss, dass nur eine diplomatische Internationalisierung des Konflikts zu einem dauerhaften Frieden führen kann.
Alexandra Sitenko: Eine Niederlage kann zum Dauerkonflikt führen
Dem ehemaligen US-Brigadegeneral Kevin Ryan zufolge ist ein russischer Atomschlag wahrscheinlicher als eine militärische Niederlage. Passend dazu verkündete Putin am 21. Februar 2023 die Aussetzung der russischen Teilnahme am Atomwaffen-Kontrollabkommen New Start. Zudem werde Russland Atomwaffen testen, falls die USA dies zuerst tun sollten. Moskau will damit Druck auf die USA ausüben, die Unterstützung der Ukraine zu beenden. Der Abschied von nuklearen Kontrollregimen bedeutet eine weitere Eskalationsstufe und erhöht das Risiko des Einsatzes taktischer Nuklearsprengköpfe durch Moskau.
Eine Niederlage würde zudem den Boden für zukünftige militärische Auseinandersetzungen bereiten statt den Konflikt nachhaltig lösen. Die Politik- und Neurowissenschaftlerin Joslyn Barnhart hat die Auswirkungen vergangener Kriegsereignisse auf die Aggressionsneigung von Staaten untersucht. Demnach tendieren kürzlich besiegte Staaten zu nachfolgenden Aggressionen. Negative kollektive Ressentiments und Emotionen, wie Demütigung oder Hass, verstärken diese Neigung. Im Falle Russlands sitzen all diese Emotionen bereits seit 1991 tief.
Betrachtet man den Krieg ausschließlich aus der Perspektive des Völkerrechts, so entgeht einem ein psychologisches und soziologisches Problem: Was in den USA und in Westeuropa sowie in liberalen postsowjetischen Kreisen als selbsterkämpfte Freiheit gesehen wird, empfinden viele Menschen in der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor als Niederlage ihrer Großmacht gegen eine andere. Dabei handelt es sich sicherlich mehr um subjektive Wahrnehmung denn objektive Realität. Denn gescheitert war ein System und nicht die Menschen. Das kollektive Trauma wirkt jedoch bis heute nach.
Russland sah sich also bereits vor der Invasion auf der Verliererseite. Putins Handeln ist von Ressentiments und dem subjektiv empfundenen Gefühl der Demütigung nach dem Zerfall der Sowjetunion getrieben. Eine weitere Niederlage würde die Wahrscheinlichkeit nachfolgender kriegerischer Konflikte nicht verringern, sondern erheblich erhöhen.
Jede Niederlage, die in Russland als erneute internationale Demütigung wahrgenommen würde oder gar die Stabilität seiner Staatlichkeit gefährden könnte, würde die gegenwärtige Situation in einen Dauerkonflikt mit ständigen atomaren Eskalationsrisiken überführen. Um das zu vermeiden, sollte man verstärkt zu diplomatischen Mitteln greifen, um die Kriegshandlungen zu beenden und die geschilderten Risiken zu minimieren.
Sebastian Hoppe: Niederlage als notwendige Destabilisierung des russischen Imperialismus
Neben der Verteidigung der territorialen Integrität der Ukraine sollte eine russische Niederlage vor allem auf eines zielen: die Destabilisierung des imperialen Selbstverständnisses der russischen Elite. Zwar ist Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion kein Imperium mehr. Wie der russische Politologe Emil Pain zeigt, hat sich im russischen Herrschaftssystem jedoch ein „imperiales Syndrom“ halten können. Der von Putin formulierte imperiale Verfügungsanspruch über die Ukraine trifft durchaus auf Zustimmung in weiten Teilen der Elite und Gesellschaft.
Da bei Russlands Angriffskrieg innere Ursachen die Hauptrolle spielen, ist ein innenpolitischer Wandel Voraussetzung für eine friedliche Nachkriegsordnung, an der Russland teilhat. Aufgrund staatlicher Repression und gesellschaftlicher Apathie in Russland kann der Impuls für diesen Wandel aber, wenn überhaupt, wohl nur vom ukrainischen Schlachtfeld ausgehen. Wie hoch hierzu der Verlust an russischem Leben und Material sowie annektiertem Territorium sein muss, weiß niemand.
Sollte die russische Führung ihr Scheitern nicht realisieren und die notwendigen Konsequenzen ziehen, führen umfangreiche Friedensverhandlungen, wie sie von Vertreter:innen einer sofortigen Verhandlungslösung gefordert werden, ins Leere. Der Weg zu dieser notwendigen Einsicht führt über die militärische Befähigung der Ukraine durch westliche Staaten. Berücksichtigt man dies, bilden Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen keinen Gegensatz, sondern eine Sequenz. Verhandlungen über Kompromisse und eine anschließende Friedensordnung sind erst sinnvoll, sobald Grund zur Annahme besteht, dass von Russland keine erneute Invasion droht.
Tragischerweise ist derzeit eine andere Entwicklung wahrscheinlicher. In einem „Weimarer Szenario“ zieht sich Russland aus militärischer Erschöpfung in der Ukraine zurück, innenpolitisch bliebe jedoch alles beim Alten. In der Folge entstünde eine russische Version der deutschen Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg: Die „im Felde unbesiegte“ russische Armee, so der wahrscheinliche Vorwurf, sei lediglich durch die fehlende politische Rückendeckung aus Moskau gescheitert. Eine derartige „Kultur der Niederlage“, wie es der Historiker Wolfgang Schivelbusch formuliert, würde den Boden für den nächsten revanchistischen Krieg bereiten. Genährt würde eine solche Entwicklung durch den Umstand, dass Russland – mit guten Gründen – von westlichen Staaten aus einer europäischen Nachkriegsordnung ausgeschlossen wäre.
Weil dieses Szenario wahrscheinlich und Frieden mit der amtierenden russischen Herrschaftselite nur eine Chimäre wären, führt der Weg in eine stabile europäische Friedensordnung unter russischer Beteiligung notwendigerweise über eine Niederlage Russlands in der Ukraine, die im Kreml auch als solche realisiert werden muss.
Alexandra Sitenko und Sebastian Hoppe: Internationalisierung und langfristige Unterstützung der Ukraine
Beide skizzierten Positionen haben offene Flanken. Das Anstreben einer russischen Niederlage schätzt tendenziell die nukleare Eskalationsgefahr als gering ein. Verfechter:innen einer sofortigen Verhandlungslösung hingegen bleiben eine Antwort auf die Frage schuldig, wie mit der derzeitigen russischen Elite nachhaltige Absprachen möglich sind. Dieser Widerspruch verlangt nach einer kreativen politischen Strategie, die über die vereinfachende Forderung nach einem Interessenausgleich zwischen den beteiligten Akteuren hinausgehen muss.
Ein Ausweg könnte in dem Versuch bestehen, den Kreml durch eine radikale Internationalisierung des Konflikts zu bändigen. In Anbetracht eines unerreichbaren „absoluten militärischen Siegs“ über Russland fordert etwa die ehemalige US-Präsidentenberaterin und erfahrene Russland-Expertin Fiona Hill „eine umfassende internationale diplomatische Anstrengung, bei der jeder versucht, nicht die Ukraine, sondern Russland an den Verhandlungstisch zu bringen“.
Denkbar ist auch eine zweigleisige Strategie, die westliche Sicherheitsgarantien und eine langfristige militärische Unterstützung der Ukraine mit intensivierten Bemühungen verbindet, gemeinsam mit den Staaten des Globalen Südens Druck auf Russland aufzubauen. Entsprechendes wird in westlichen Hauptstädten bereits diskutiert.
Eine diplomatische Internationalisierung des Konflikts müsste die Vereinten Nationen genauso einbeziehen wie die Afrikanische Union oder das russlandfreundliche BRICS-Format. Es sind aktuell seine verbliebenen Partner in Afrika, Asien und Lateinamerika, die Russland unter Umständen in einem multilateralen Rahmen aufzeigen können, dass sich ein verhandelter Rückzug und die Akzeptanz des Scheiterns in der Ukraine positiv auf das Ansehen und die zukünftige wirtschaftliche Zukunft des Landes auswirken würden. Denn bisher weigert sich der Kreml, die auch global destabilisierenden Konsequenzen seines Angriffs anzuerkennen.
Eine solche Strategie bedeutet nicht, Russland entgegenzukommen oder die Ukraine aufzugeben. Vielmehr würde sie das Existenzielle abschwächen, das Putin der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen zugeschrieben hat. Dass Russland in der Ukraine um die eigene Existenz kämpft, mag externen Beobachter:innen lediglich als pathologische Verirrung des Präsidenten erscheinen. Sie sollte dennoch ernst genommen werden. Denn es gehört zu den unausgesprochenen Wahrheiten dieses Krieges, dass es keinerlei historische Erfahrungen mit militärisch geschlagenen Atommächten gibt, deren Elite ihr persönliches Schicksal mit der Existenz des Staates gleichsetzt.
Dr. Alexandra Sitenko ist Politikanalystin und Forscherin zu Außen- und Sicherheitspolitik. Ihr langjähriges Spezialgebiet sind die Beziehungen zwischen Russland und Lateinamerika. Sebastian Hoppe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin und forscht zur politischen Ökonomie des russischen Fernen Ostens und den russisch-chinesischen Beziehungen. Beide sind Teil des Kuratoriums des Themenkanals Ukraine: Krieg der Wissenschafts- und Debattenplattform te.ma.
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